Privates

Herbstleiden

Wieder so ein Artikel, den ich jetzt schon seit Wochen vor mir herschiebe. Und mit Blick auf den Titel und meinen Herbstinfarkt-Beitrag vor einem Jahr werden gleich zwei Dinge offensichtlich:

  1. Die schlechten Herbst-/Herz-Wortspiele gehen weiter
  2. Ich schaffe tatsächlich auf diesem Blog lediglich einen Beitrag pro Quartal

Das erste macht mir nicht zu schaffen — schlechte Wortspiele begleiten mich durch mein ganzes Leben. Das zweite hingegen nervt mich. Ich habe eine Million Dinge zu erzählen und wüsste gern, wieso mir so oft die Kraft fehlt, sie in Artikelform zu bringen. Eigentlich könnte ich in der Aufzählung oben noch einen dritten Punkt ergänzen, denn als ich gerade den Herbst-Artikel vom letzten Jahr nochmal gelesen habe, fiel mir auf, dass ich mir diesen neuen Beitrag eigentlich schenken könnte.

Ich hab euch vom Todestag meiner Mama erzählt, von meiner derzeitigen eher minimalistischen Performance in den sozialen Netzwerken und davon, dass auch der Umgangston ein Grund dafür ist, dass ich mich nicht mehr so gern zu Wort melde. All das ist noch — oder wieder — aktuell und daher bräuchte ich dieses Posting eigentlich nicht nochmal komplett neu schreiben.

Tue ich aber trotzdem. Der Zeitpunkt ist gerade genau richtig. Ich bin eben wieder nach Hause gekommen, nachdem ich ein, zwei Stündchen durch Dortmund gelatscht bin. Das ist über die letzten Monate so eine Art Ritual geworden: Musik auf die Ohren und alleine durch die Nacht stiefeln. Wieso ich das mache, kann ich vielleicht ein anderes mal ausführen, denn darüber wollte ich ja eigentlich heute nicht reden.

Ich war kurz nach Mitternacht wieder hier, wir haben jetzt also bereits den 26. Oktober 2018. Das bedeutet, dass ich heute auf den Tag und auf die Minute genau vor 11 Jahren im Knappschaftskrankenhaus hier in Dortmund gesessen habe. Zusammen mit meinem Bruder und meinem Dad. Damals wusste ich noch nicht, dass sich mein Vater und ich so schnell voneinander entfernen würden, dass wir ab diesem Tag nur noch einige wenige Male aufeinander treffen würden. Was ich hingegen wusste: Meine Mama würde das Krankenhaus nicht mehr lebendig verlassen.

Vor exakt einem Jahr habe ich diesen ihren letzten Tag aufgeschrieben. Ich wusste damals noch nicht, ob das eine gute oder eine furchtbare Idee war, all diese Gedanken zu veröffentlichen. Wie immer in meinem Leben hat es mir gut getan, Dinge schreibend zu verarbeiten. Seit ich das Schreiben beherrsche, mache ich das so. Ich schreibe Tagebuch, schreibe Lieder, schreibe Geschichten, schreibe Blog-Artikel. Aber nicht alles ist für die Öffentlichkeit bestimmt und so war ich sehr unsicher vor dem Veröffentlichen des Artikels.

Ich habe sehr liebes, wohlwollendes und wärmendes Feedback bekommen damals. So gesehen war es also richtig, den Beitrag zu veröffentlichen und meine Gedanken somit auch Menschen zugänglich zu machen, die mich vielleicht nicht so besonders gut kennen. Aber selbst, wenn ich jetzt schon wieder hier sitze und über diese furchtbare Zeit nachdenke und schreibe, weiß ich natürlich, dass ich nicht bis zum Ende meiner Tage traurige Beiträge verfassen kann, in denen es darum geht, wie sehr mir meine Mutter fehlt. Ich möchte schließlich auch nicht so einen „Puh, jetzt geht das wieder los“-Impuls in euch wecken.

Der Herbst macht leider immer wieder schlimme Dinge mit mir. Der Tod meiner Mama ist da leider nur die Speerspitze, allerdings beschäftigt mich das bis inklusive Weihnachten und Silvester, weil man da ja gedanklich schon näher an seiner Familie ist, als es mir dann in der Realität wirklich möglich ist. Ich habe kaum Kontakt zu meinem Bruder, überhaupt keinen Kontakt mehr zu Dad — und meine Mama ist eben seit 11 Jahren nicht mehr da. Diesen Rucksack schleppe ich jedes Jahr aufs Neue ab Ende September, Anfang Oktober mit mir herum.

Das führt dazu, dass ich weniger gut drauf bin, noch mehr nachdenke als sowieso schon und tendenziell eher dämlich zu meinen Mitmenschen bin. Ich denke an eine schlimme Trennung, die ebenfalls in exakt diese Zeit Ende Oktober fiel, denke über das Alleinsein und die damit verbundene Einsamkeit nach. Denke darüber nach, wieso mir das widerfährt und wieso ich auch diese anderen Baustellen in meinem Leben, über die ich jetzt nicht reden möchte, mit mir herumschleppe. Die ganz großen Herbst- und Winterfestspiele des Carsten Drees, quasi.

Ich denke auch darüber nach, dass ich nicht immer so war. Dass ich fröhlicher und aufgeschlossener war und vor allem optimistischer. Dass ich mein Leben unter Kontrolle hatte, sowohl beruflich als auch privat. Dass ich nicht diese Schwierigkeiten hatte, simpelste Dinge im Haushalt einfach nicht erledigen zu können. Huch — schon wieder eine Woche nicht gespült. Der arme Caschy kündigt seine Besuche schon lange vorher an und nur mit diesem Vorlauf schaffe ich es, in der Bude was zu tun. Und nur, damit wir uns nicht falsch verstehen: Damit meine ich nicht eine „So, jetzt ist wieder alles blitzblank“-Bude, sondern eher eine „es ist immer noch furchtbar, aber ich traue mich, einem guten Freund die Tür zu öffnen“-Bude.

Immer wieder scheitere ich kolossal daran, Leuten meine Depression zu erklären. Weil es nicht greifbar ist. Weil es keinen triftigen Grund gibt, wieso ich an einem Tag 5.000 Wörter schreiben kann und am nächsten Tag daran scheitere, eine 200-Wörter-News in weniger als drei Stunden fertigzustellen. Weil ich mir selbst nicht in die Augen schauen mag an diesen Tagen und mich immer wieder schuldig fühle. Es gibt Menschen, die es einfach nicht nachvollziehen können und mittlerweile verstehe ich sie auch ganz gut, denn ich kann mir mein Verhalten ja selbst nicht wirklich erklären.

Kennt ihr das, wenn ihr pennen wollt und dann ist da diese Mücke im Schlafzimmer, die euch wach hält? Dieses unangenehme Geräusch, wenn sie euch am Ohr vorbei fliegt und natürlich auch der unschöne Moment, wenn sie zusticht? Stellt euch vor, dass diese Arschloch-Mücke in eurem Kopf ist, wie ein unschöner Gedanke, der sich einfach nicht vertreiben lässt. Und wenn sie zusticht, fühlt sich das nicht wie ein einigermaßen unangenehmer Stich an, sondern eher so, als ob da jemand ein großes Stück aus Dir herausbeißt. Und dieses Ding beißt nicht wahllos zu, sondern immer nur ins Herz oder ins Gehirn.

Die Depri-Mücke kommt zudem nicht allein, sondern bringt immer mindestens 1000 Brüder mit, die gleichzeitig an einem nagen. Die Biester halten mich nachts wach und sorgen dafür, dass Tage oftmals an mir vorbeiziehen, ohne dass ich wirklich an ihnen teilgenommen habe. Weil ständig wieder irgendwo zugebissen wird und jeder Biss für einen neuen, unschönen Gedanken steht, dem ich nachgehe. An Tagen wie diesen bin ich damit so beschäftigt, dass kaum noch etwas anderes in meinem Leben wirklich funktioniert. Das System „Casi“ fährt runter in einen Not-Modus, der mich nur noch rudimentär funktionieren lässt.

Das liegt wie ein Schatten auf mir, wie eine Regenwolke, die ständig über mir schwebt. Mal ist es nur ein dumpfes Gefühl, welches ich wie ein Hintergrundrauschen vernehme, mal ist es allgegenwärtig und zwischen diesen beiden Zuständen schwanke ich zumeist in dieser Zeit ab Oktober. Ich wünschte, dass ich sagen könnte, dass am heutigen Todestag der Peak erreicht ist, aber so berechenbar ist der Scheiß leider nicht.

Ich möchte aber eben auch nicht ein zu schwarzes Bild malen, weil ich ja trotzdem Freude empfinden kann, weil ich dennoch erkenne, wenn mir gute Dinge widerfahren und weil ich auch wirklich herzlich lachen kann, gerade wenn ich mit meinen guten Freunden kommuniziere.

Freunde — die bringen mich nicht nur zum lachen, sondern helfen mir wirklich immer und immer wieder über den Tag. Indem sie mich in ihr Leben einbeziehen und fest einplanen, so wie Caschy und seine wundervolle Familie es tun. Die Drei sind mir unsagbar ans Herz gewachsen und es tut gut, im hohen Norden eine solche Homebase zu haben. Dort entspanne ich, dort ist mein erster und finaler Rückzugsort, wenn ich es hier nicht mehr aushalte und dort erlebe ich, was es bedeutet, eine Familie zu haben. Weil gute Freunde nämlich wirklich eine eigene Familie ersetzen können und in meinem Fall ja sogar müssen, da diese in meiner eigenen Welt nicht mehr existent ist.

Wenn ich also (schon wieder) einen schwermütigen Herbst-Artikel blogge, dann will ich zumindest darauf hinweisen, dass ich die guten Dinge durchaus sehe. Eben wie den guten Freund und den auch wirklich spannenden Job, der mich zum Beispiel neulich mit ihm zusammen nach Marrakesch brachte. Auf solchen Reisen erlebe ich Sachen und sehe Orte, von denen ich ziemlich sicher weiß, dass da eben nicht jeder hinkommt.

Ähnliches gilt für meine Depeche-Leidenschaft. Im Sommer ging die Tour in Berlin zu Ende (verdammt, den Artikel muss ich auch noch schreiben) und auch die führte mich in großartige Länder und das stets mit außergewöhnlichen Menschen. Ich mag jetzt auch gar kein Namedropping betreiben — allein schon, weil ich ein Talent dafür habe, genau dann den oder die wichtigsten Menschen einfach mal zu vergessen. Aber es hat sich da eben ein großartiges Grüppchen mit tollen Freunden gebildet, mit denen ich tatsächlich auch mal abschalten und genießen kann. Wir lachen viel, wir trinken viel, wir feiern viel und zelebrieren uns und die Band. Dabei ist es dann auch fast egal, ob ich diese besonderen Menschen schon seit vielen Jahren kenne und schätze, ober ob da lediglich drei Minuten und Berlin auf der Uhr stehen.

Einige dieser DM-Verballerten sehe ich demnächst schon wieder, Codewort „Budenzauber“. Darauf freue ich mich riesig und das lasse ich mir auch durch keine bösen Gedanken verderben. Ebenso werde ich Caschy bald wiedersehen, werde zudem beruflich in San Francisco sein, das Ende des Jahres — Palle sei Dank — auf Bali und in Taiwan verbringen (cancelled) und schon jetzt weiß ich, dass auch im nächsten Jahr unglaubliche Konzerte und Trips auf mich warten mit all diesen tollen Menschen.

Heute ist wieder so ein schlimmer Tag, von dem ich mir wünschte, dass man ihn einfach aus dem Kalender tilgen könnte, oder wenigstens vorspulen. Aber ich hab beschlossen, dieses Jahr nicht schon wieder so dramatisch einzuknicken und mich von all den schlechten Dingen auffressen zu lassen.

So manches mal grüble ich darüber, wieso die Dinge so laufen, wie sie laufen. Wieso bin ich so allein, wenn jeder Vollhorst in der Lage ist, eine Partnerin zu finden? Vermutlich, weil man es nicht erzwingen kann. Mir laufen faktisch nicht viele Menschen über den Weg, die ich tatsächlich in mein Herz lasse. Das ist so und das ist auch okay so, egal ob wir über eine freundschaftliche Ebene reden oder über alles, was darüber hinausgeht.

Ich weiß, dass ich ein sehr schwieriger Mensch bin und dass ich optisch eher an eine Mischung aus Silvesterrakete und Lumpensammler erinnere als an Hollywood-Schauspieler oder Fotomodell. Wenn man unter diesen Voraussetzungen aber dennoch so anspruchsvoll ist, wie ich es augenscheinlich bin, findet man im Leben nicht sehr viele gute Freunde und verliebt sich auch nicht sonderlich oft. Das Alleinsein ist daher vermutlich kalkuliertes Risiko und die logische Konsequenz, trotzdem ist es nicht leicht, das alltäglich zu ertragen.

Aber genau deswegen möchte ich mir gerade an diesem schwierigen Tag ins Gedächtnis rufen, dass ich ein durchaus tolles Leben geführt habe und auch noch führen werde. Ich hatte das Glück, außergewöhnliche Dinge zu erleben, das kann ich wohl unbestritten so behaupten. Ich hatte ein paar mal die Gelegenheit, mit meinen Idolen von Depeche Mode zusammen zu quatschen und sogar zu saufen, spielte mit den Ärzten Badminton, flog in einem Hubschrauber in den Grand Canyon, um dann dort unten ein Champagner-Picknick abzuhalten.

Caschy und ich ballerten im Luxus-Sportwagen durch die Wüste Nevadas, schipperten in Istanbul den Bosporus rauf und runter und ritten auf Dromedaren zusammen durch die Steinwüste Marokkos. Ich aß merkwürdige Hühnerfüße in China, köstliche und riesengroße Fleisch-Berge in Las Vegas und den schärfsten Hot-Dog der Welt in Stockholm.

Wir feierten wilde Parties über den Dächern von Berlin, Las Vegas und Barcelona, tanzten beim Holly Johnson-Konzert zu alten FGTH-Hymnen, sahen The Cure im Londoner Hyde-Park. Gemeinsam mit Benny Höwedes sahen wir der deutschen Elf beim WM-Aus zu, ich holte mir im letzten Frühling einen Sonnenbrand in Schottland, ging später noch auf eine 101-Revival-Tour durch Großbritannien mit den besten Begleitern, die man sich für so einen Depeche-Trip wünschen kann. Wir sind mit Dosenbier durch Monaco geschlurft, haben in Nizza am „Baum des Todes“ mehrfach die Nacht zum Tag gemacht und sangen in Istanbul eine Karaoke-Bar leer.

In Südkorea und Taiwan konnte ich aus einigen der höchsten Gebäude der Welt die Aussicht genießen und in Marbella vom Hafen bis nach Afrika schauen. Nicht zu vergessen: 1997 feierte ich meinen Geburtstag in Mailand, als nämlich Schalke sensationell den UEFA-Cup gewann. Ich war an wirklich vielen außergewöhnlichen Orten und hab fantastische Abende erlebt, wenngleich oftmals die Momente am schönsten waren, wenn ich einfach nur irgendwo gestanden oder gesessen habe und mit Freunden und einem Bierchen in der Hand gequatscht habe. Da ist es dann auch egal, ob Du vorm Hotel in Las Vegas stehst, in Bratislava im Hotelzimmer hockst oder in Dortmund in der Fußgängerzone unterwegs bist.

Eine Million große und kleine Augenblicke, für die ich dankbar bin und die mir helfen, mit diesen Arschloch-Depri-Mücken in meinem Kopf klar zu kommen. Und wisst ihr, was ich noch in mir trage? Einen unersättlichen Appetit auf die Welt, weil man genau weiß, dass man trotz allem bislang nur einen winzigen Bruchteil des Planeten kennen gelernt hat und noch so viele bunte Abende vor einem liegen.

Ich möchte noch so viele Länder sehen, so viele Städte erkunden, wieder und wieder Teil von schönen Momenten werden, mehr von der Welt und mehr über meine Freunde lernen. Gerade bin ich wieder tieftraurig, weil der Gedanke an meine Mama so allgegenwärtig ist. Aber genau deswegen wollte ich diesem wieder mal viel zu langen Text auch etwas Positives hinzufügen.

Weil ich mir dessen bewusst bin, dass ich wundervolle Menschen in meinem Leben habe, tolle Dinge erlebt habe und dass ich mit meinen mittlerweile 47 Jahren nicht am Ende einer Reise angekommen bin, sondern mindestens noch einmal 47 Jahre lang schöne Dinge wiederholen und neue Erfahrungen machen möchte.

Dabei weiß ich, dass ich es euch gerade in diesen Tagen nicht immer leicht mache und deswegen verneige ich mich vor den wichtigen Menschen in meinem Leben. Nicht nur dafür, dass sie diesen Text hier bis zum Ende gelesen haben. Auch dafür, dass sie immer für mich da sind, wenn ich sie brauche. Dass sie mich mit all meinen Macken ertragen und dennoch im Herzen haben, egal ob ich mich mal wieder zu lange nicht melde, eine dumme Entscheidung treffe oder euch mit zu langen Sprachnachrichten malträtiere. Ihr seid weit verstreut, wohnt in der Nähe von Bremerhaven oder Frankfurt, lebt in Köln, Halle, Leipzig oder sogar in der Schweiz und seid mir trotzdem nahe, wenn es drauf ankommt. Logischerweise gilt das auch für meine Dortmunder Freunde, die ich hier natürlich nicht unterschlagen möchte. Ihr tut mir gut und dessen bin ich mir bewusst — auch (oder gerade), wenn ich euch das mal wieder nicht spüren lasse.

Ich brauch euch alle auch in 2019 wieder, weil ich viel vorhabe 🙂 … vielleicht sogar den Plan, hier NOCH mehr zu bloggen als dieses Jahr 😉

Ein Gedanke zu „Herbstleiden

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert