Politik und Gesellschaft

Querdenker: Ich wünschte, ich wäre nicht so wütend

Ach, Jana — ist das nicht wundervoll? So viele junge Menschen träumen davon, irgendwie berühmt zu werden und Du hast es geschafft: Ein nur wenige Sekunden langes Video hat dafür gesorgt, dass heute auf einmal das ganze Land von Dir spricht:

Das Problem: Es ist nicht die Art von Berühmtheit, die Du Dir erhofft haben dürftest. Mit Sicherheit bist Du für manche Menschen in der Querdenker-Bewegung jetzt sowas wie eine Heldin. Aber der überwältigende Teil der Bevölkerung ist entsetzt, angewidert und wütend, weil Du es wagst, Dein „Schicksal“ als junge Frau im vermeintlichen Widerstand tatsächlich mit dem der Sophie Scholl zu vergleichen.

Querdenker und ihre pathologische Besessenheit von Opfern des Dritten Reiches

Jana aus Kassel fühlt sich “wie Siff Suff Sophie Scholl“, kürzlich fühlte sich ein kleines Mädchen wie Anne Frank und schon länger fühlen sich viele Querdenker wie die Juden im Dritten Reich. Merkt ihr eigentlich noch was?

“Querdenken“ war mal ein positiv besetztes Wort. Fairerweise sollten diese verwirrten Kreaturen daher lieber auf realistische Bezeichnungen wie “Rückwärts-Denker“, “Hinterher-Denker“ oder “Überhaupt-nicht-Denker“ zurückgreifen.

Diese Brut macht mich so wütend, weil sie mit diesen unsäglichen Vergleichen auf die Gräber von Millionen Opfern der Nazis pisst. Auf all die sonstige Dummheit, Ignoranz und Unverschämtheit kommt das noch oben drauf, quasi als Sahnehäubchen der Arschlochhaftigkeit.

Wie kann man sich allen Ernstes hinstellen, davon reden, dass man “im Widerstand“ ist und sich mit Sophie Scholl vergleichen? Die eine stellt sich in furchtbaren Zeiten unter Einsatz ihres Lebens gegen das Hitler-Regime und den Nationalsozialismus, die andere muss manchmal eine Maske tragen und darf nicht so viele Menschen treffen wie sonst. Als Sophie erwischt wurde, sperrte man sie ein, verurteilte sie vier Tage später zum Tod und ließ sie noch am selben Tag enthaupten! Weil sie Flugblätter verteilt hatte!!

Jana aus Kassel darf sich hinstellen und das sagen, was sie gesagt hat, darf die Regierung öffentlich kritisieren und kann danach unbehelligt nach Hause gehen. Jana aus Kassel muss nicht um ihr Leben fürchten, weil sie Reden auf Querdenker-Demos hält (Was sagt das eigentlich über einen Menschen aus, der von sich erzählt, „im Widerstand“ zu sein, jetzt seine neunte Rede zu halten und ab sofort auch selbst Veranstaltungen anzumelden? Bisschen viel Selbstdarstellung, finde ich persönlich).

Liebe “Querdenker“ – das müsst ihr doch selbst merken, was ihr hier für einen Irrsinn abzieht. Ich erwähnte oben bereits das elfjährige Kind, welches sich in einem ähnlichen Rahmen mit Anne Frank verglich, weil es seinen Geburtstag mit Freunden heimlich feiern musste. Anne Frank versteckte sich zwei Jahre lang mit ihrer Familie, musste ständig leise und auf der Hut sein. Sie wurde verraten und endete im KZ, wo sie — kurz nach ihrer Schwester — im Alter von 15 Jahren verstarb.

Wie verballert muss man sein, sein Kind erzählen zu lassen (oder ihm vorher einzutrichtern), dass ein eher so mittelschöner und heimlicher Geburtstag auch nur ein ganz kleines bisschen was mit dem Leben und den Lebensumständen einer Anne Frank zu tun hat? Dazu schaut euch auch unbedingt das Video von Sarah Bosetti an, die die richtigen Worte findet:
Ist das Land tatsächlich — zumindest in Teilen — schon so verblödet, dass wir unsere eigene Geschichte nicht mehr kennen? Oder sind wir schlicht zu ignorant, um diese Geschichte wahrhaben zu wollen? Seid ihr vielleicht angesichts dieser „Corona-Diktatur“ so verzweifelt, dass ihr wissentlich diese falschen Vergleiche zieht, weil es die Sache, für die ihr kämpft, rechtfertigt? Erzählt es mir, ich möchte es einfach nur verstehen, was in solchen Köpfen vor sich geht. Das gilt auch für Menschen, die sich einen gelben Stern auf die Jacke kleben, auf dem „nicht geimpft“ steht. Auch hier wieder: Wollt ihr das allen Ernstes miteinander vergleichen? Die millionenfachen Verbrechen und Gräuel des Holocausts mit der aktuellen Situation in Deutschland? Der Planet ist doch echt gefickt: Der Klimawandel hat uns immer noch fest im Griff und spätestens nach Beendigung der Pandemie werden wir uns allesamt wieder daran erinnern, dass diese Pandemie im Vergleich zu den Folgen des Klimawandels die weitaus kleinere Krise darstellt. Einzelne Menschen haben in der Pandemie zweistellige Milliarden-Beträge verdient, während wir nach wie vor nicht in der Lage sind, auch nur annähernd für jeden Menschen sicherzustellen, dass er ausreichend zu essen, sowie ständigen Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen hat. Wenn im Sudan, in Jemen oder mit einer Nussschale von Boot im Mittelmeer Menschen sterben, kostet das uns ein müdes Arschrunzeln und auch bei einem ganzen Katalog von menschenrechtlichen Verfehlungen in China (Uiguren anyone?) schauen wir entspannt weg. Altersarmut in Deutschland fällt uns erst in dem Moment ein, in dem wir einen Grund dafür suchen, um mit dem ausgestreckten Finger auf Geflüchtete zu zeigen. Oder liege ich falsch? Wart ihr vorher auch schon alle so wütend und empört? Seid ihr auch zu Tausenden auf die Straße gegangen, weil die Schere zwischen arm und reich weiter und weiter auseinandergeht? Seid ihr anlässlich des Cum-Ex-Skandals auf die Straße gegangen, als uns klar wurde, dass wir um viele Milliarden Euro betrogen wurden? Der Pflegenotstand, Kinderarmut, unbezahlbarer Wohnraum — wir haben doch tatsächlich einen ganzen Wust an Dingen, die uns aufregen müssen. Aber ihr Kämpfer für Freiheit habt bei all den Themen mit dem Arsch zuhause gesessen. Jetzt ist aber die Zeit zum Aufstehen gekommen für euch. Weil ihr nicht mehr für einen sehr begrenzten Zeitraum so viele Menschen treffen dürft, wie ihr wollt und weil ihr einen Stofffetzen tragen sollt für den kleinsten Teil des Tages.

Meine Wut

All das macht mich so wütend, dass ich selbst alle Pandemie-Regeln über Bord werfen möchte, um euch einen nach dem anderen zu schütteln, bis ihr kapiert, was ihr da tut. Auf allen Seiten wird immer davon geredet, dass die Welt so schwarz und weiß geworden ist. Genau deswegen schaue ich mir so viele unterschiedliche Nachrichten-Quellen an, um mir eine Meinung zu einem Sachverhalt bilden zu können. Das geht soweit, dass ich mir auch Livestreams von so abstrusen Veranstaltungen wie Trump-Rallies oder eben Querdenker-Events anschaue. Tut mir doch bitte einen Gefallen und macht es ebenso. Informiert euch in seriösen Medien, die es — egal, was ihr behauptet — zuhauf in Deutschland gibt. Nehmt aber auch noch seriöse Medien aus dem Ausland dazu. Und dann schaut euch die Berichterstattung der Querdenker-Events an. Vergleicht das Gerede von Frieden und Freiheit und Liebe mit den hasserfüllten Menschen, die es zu Tausenden auf diesen Veranstaltungen zu sehen gibt. Versucht — nur einen Moment lang — eine neutrale Position einzunehmen. Stellt euch vor, dass ihr der Politiker, der Polizist, der Journalist oder einfach der Maske-tragende Passant seid, der in diese hasserfüllten Gesichter blickt und angeschrien wird für nichts .Auf euren Demos marschieren wie selbstverständlich auch immer Rechtskonservative, Rechtspopulisten und Neonazis mit und viel zu oft wird deren Anwesenheit gerechtfertigt, akzeptiert oder zumindest stumm geduldet. Ich raffe nicht, dass man das nicht sehen kann, dass es sich hier um eine Bewegung handelt, in der man das Kunststück schafft, gleichzeitig Nazis zu akzeptieren und sich selbst mit Nazi-Opfern auf eine Stufe zu stellen. Wie gesagt: All das macht mich wütend! Weil ich genau weiß, dass ihr zwar viel davon redet, wie viel ihr hinterfragt und wie kritisch ihr seid und dass ihr alle aufgewacht seid, aber Aufwachen, Kritisieren und Hinterfragen von euch nur akzeptiert wird, wenn man zu den selben Schlüssen gelangt wie ihr. Es macht mich wütend, weil anscheinend niemand von euch den Begriff „Pandemie“ in seinem Wortsinn versteht. Würdet ihr das nämlich tun, würdet ihr nicht den Reichsbürgern und Aluhutträgern nach dem Maul reden und feststellen, dass es hier nicht um das Tun einer deutschen Regierung geht, sondern um ein Problem, welches derzeit fast die ganze Welt hat. Es macht mich wütend, weil ihr euch den Anschein gebt, für friedliches Miteinander einzustehen und dennoch so voller Hass seid. Man muss auch miteinander reden wollen — gerade mit Menschen, die nicht eurer Meinung sind. Es macht mich wütend, weil ihr so viel Energie und Zeit darauf verwendet, über das Leid eurer Kinder zu schwadronieren, weil sie durch die Masken nicht nur gesundheitlich geschädigt werden, sondern auch ihrer Kindheit beraubt werden. Gleichzeitig seid ihr euch nicht zu fein dafür, diese Kinder bewusst als Schutzschilde gegen die Wasserwerfer der Polizei zu missbrauchen. Und ja: Ich bin auch wütend auf mich selbst, weil ich genau diese Wut verspüre. Egal, worum es geht: Sie ist nie ein guter Ratgeber, um eine Situation zu meistern. Daher wünschte ich, ich hätte diesen Impuls nicht in mir, könnte entspannt über Kommentarspalten hinwegscrollen und eure Veranstaltungen einfach ignorieren. Ich würde mir wünschen, dass ihr Querdenker nur halb so viel Zeit damit verbringt, Menschen wie mich zu verstehen, wie ich es mit euch versuche. Das funktioniert aber nicht, wenn man sich von der Regierung, vom Journalismus und unserer Demokratie so weit entfernt und sich in seine Schwurbler- und Aktivisten-Bubble verkriecht. Mag sein, dass das elfjährige Mädchen, dem man diesen irrsinnigen Anne-Frank-Vergleich eingeimpft (Pun intended!) hat, sich in wenigen Jahren arg dafür schämt. Bei Jana aus Kassel hingegen bin ich skeptisch, dass da irgendwas in ihr ist, an dass man noch appellieren könnte. Das Video, in dem sie davon spricht, im Widerstand zu sein und niemals aufhören würde, sich für „Freiheit, Frieden, Liebe und Gerechtigkeit“ einzusetzen, hat heute fast jeder gesehen. Somit sah auch jeder, dass diese Kämpferin des Widerstands weinend von der Bühne stiefelt, weil es ein Ordner gewagt hat, sie auf den von ihr erzählten Unsinn aufmerksam zu machen, aber das nur am Rande. Was nicht ganz so viele Leute heute gesehen haben: Sie hat danach einen neuen Anlauf genommen und ihre Rede gehalten und sich wieder mit Sophie Scholl verglichen. Lerneffekt also gleich null. Ich sehe das Video und mir wird klar, was mich bei dem ganzen Scheiß am wütendsten macht: Schlimmer, als ein Judenstern, das Reden vom „Ermächtigungsgesetz“, den Vergleichen mit Anne Frank und eben Sophie Scholl ist für mich nämlich, dass diese Menschen damit durchkommen und für ihr Tun Applaus bekommen. Wenn sich eine junge Frau hinstellt und sagt, dass sie sich wie Sophie Scholl fühlt, wirft das zunächst einmal kein gutes Licht auf sie. Aber es wirft gleichzeitig ein erschreckendes Bild auf alle Besucher der Demo, die nicht den Schneid haben, sie auf ihre Fehleinschätzung hinzuweisen und die einfach stumm oder gar applaudierend dabei stehen.
Was ist eigentlich schlimmer? Querdenker, die sich für Anne Frank oder Sophie Scholl halten – oder die Tatsache, dass sie für diese Sicht sogar Beifall von ihresgleichen bekommen?
Irgendwie muss ich jetzt versuchen, meine Wut auf das alles in den Griff zu bekommen und auch meine Enttäuschung darüber, dass all diese aufgewachten, kritischen, alles hinterfragenden Querdenker meinen Text sowieso niemals lesen werden. Daher lege ich mich jetzt auf die Couch und schaue vielleicht irgendwelche Hitler-Dokus. Sollten einige der Querdenker vielleicht auch mal tun, könnte nämlich erhellend sein. PS: Werden noch Wetten angenommen, in welcher Talkshow oder Boulevard-Zeitung Jana aus Kassel demnächst zuerst zu sehen sein wird?   Artikelbild: Screenshot aus dem Film „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ von 2005 mit Julia Jentsch in der Rolle der Sophie Scholl. Auf dem Bild sehen wir die letzte Umarmung, bevor Sophie Scholl hingerichtet wird. (Ich brachte es einfach nicht übers Herz, Jana aus Kassel auch noch die Ehre des Artikelbilds zukommen zu lassen)

2 Gedanken zu „Querdenker: Ich wünschte, ich wäre nicht so wütend

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