Reisen

Sono Tedesco

“Sono Tedesco” – das rief ich diesen Kindern zu, die da irgendwie alle auf italienisch auf mich einredeten und die das in einem Tempo taten, das mich damals echt erstaunte. Rückblickend betrachtet nenne ich sie “Kinder” – damals hab ich sie vermutlich eher als “Jugendliche” wahrgenommen. Sie waren ungefähr in meinem Alter – also auch etwa zwölf Jahre alt. Und machen wir uns nichts vor: Ich kam mir mit meinen zwölf Jahren schon ziemlich wie ein junger Erwachsener vor – wie vermutlich jeder junge Mensch, der ziemlich unverhofft mitten in die Pubertät rauscht.

Ich erinnere mich an ein Mädchen mit dunklen Augen und langen Haaren, der Rest der Bande bestand aus Jungs. Und diese Horde umringte mich an dem Ort, an dem ich eigentlich nur mit meinem Fußball ein wenig am Strand rumpöhlen wollte, bevor wir später dann noch in die Stadt marschieren wollten. Es hatte uns wieder nach Porto Recanati verschlagen, ein süßes Städtchen südlich von Ancona an der italienischen Adria-Küste. Wir hatten eine coole Ferienwohnung, die einen riesigen Balkon mit Blick aufs Mittelmeer hatte und lediglich die Strandstraße trennte uns vom feinen Sandstrand.

Bevor wir also Richtung Stadt marschieren wollten, tobte ich mich mit meinem Fußball noch ein wenig aus – unfassbar, in dem Alter ist man damals noch freiwillig gerannt, aber ich hab ja auch schätzungsweise nur die Hälfte gewogen. Wir waren zum zweiten Mal hier. Mein Dad arbeitete in einem Musik-Großhandel und hin und wieder schickte man ihn im Sommer nach Italien, um für seine Firma Deals mit Instrumenten-Herstellern auszuhandeln.

Mal gurkte er allein hin, mal durfte die Familie mit. Das erste Mal waren wir alle zusammen 1979 da, wenn ich mich recht erinnere und selbst an den Trip hab ich noch sehr schöne Erinnerungen. Wir sind damals tatsächlich mit dem Zug nach Italien gefahren. Ein unfassbares Erlebnis für ein kleines Kind, das noch so gar nichts von der Welt gesehen hatte. Allein die Fahrt durch die Berge war unvergesslich und die vielen Kilometer, die wir parallel zum Strand mit Meerblick absolvierten – es war immerhin das allererste Mal, dass ich überhaupt irgendein Meer gesehen habe.

Jetzt war schon 1983 und als fast-mittel-erwachsener 12-Jähriger fühlte ich mich natürlich auch imstande, mal ganz allein aus dem Haus zu gehen und einen verschissenen Fußball immer wieder gegen diese halbhohe Mauer zu ballern, die den Strand von der Straße trennte. Plötzlich war also diese Horde Kinder da, die auf mich einsprach. Was wollten die eigentlich? Sie sahen mir nicht feindlich gesonnen aus, eher fröhlich und ich schätze mal, dass sie an meinen Touri-Klamotten und meiner ungesund weißen Haut schnell gemerkt haben, dass sie hier sicher keinen Landsmann vor sich hatten.

Sie redeten u.a. mit Händen und Füßen, dummerweise echt alle durcheinander. Ich hatte in diesem Stimmen-Durcheinander vernommen, dass jemand wissen wollte, wer ich bin und woher ich komme. “Sono tedesco”, sagte ich nervös – bis zu diesem Tag hatte ich wohl tatsächlich noch nie mit einem Menschen aus einem anderen Land in seiner Sprache zu reden versucht. Ehrlich gesagt weiß ich bis heute nicht mal, ob ich das grammatikalisch richtig gesagt habe oder ob diese Kids heute noch überlegen, was ich ihnen damit eigentlich sagen wollte.

Na ja – ich sagte ihnen jedenfalls meinen Namen und wollte ihnen mit “Sono tedesco” signalisieren, dass ich Deutscher bin. Schon damals waren meine Englisch-Kenntnisse ziemlich bescheiden – die Idee, es mit dieser Sprache zu versuchen, sollte sich dennoch als einigermaßen pfiffig herausstellen. Fortan konnten wir uns zumindest halbwegs verständigen und wir spielten uns zusammen den Ball hin und her.
Ich erinnere mich noch, wie ich oben am Balkon meinen Dad sah, der diesem Schauspiel zuschaute. Wie gerne hätte ich gewusst, was er dabei gedacht hat, als sein Sohn da von den italienischen Kids umringt wurde. Ich bilde mir bis heute ein, dass er stolz darauf war, dass ich mich mit denen “anfreundete”, statt die Flucht zu ergreifen (was mir echt ähnlich gesehen hätte).

Irgendwie war dieser Urlaub auch für das Verhältnis zwischen ihm und mir etwas Besonderes. Er tat sich damals sichtlich schwer mit mir – ich kann bis heute nicht sagen, was ich damals falsch gemacht haben könnte. Eigentlich war ich schon drauf bedacht, weder ihm noch meiner Mama Schande zu bereiten oder ihnen das Leben schwer zu machen. Dennoch: “Ich glaube manchmal, dass Du Dich zu einem Kleinkind zurückentwickelst” war ein Satz, den ich damals öfters von ihm zu hören bekam und der mir sehr weh tat.

Irgendwie änderte sich das auch erst mit diesem Urlaub wieder. Ich erinnere mich an einen Tag, als ich in unserer Ferienwohnung am Esstisch saß und er plötzlich hinter mir stand und mir über den Kopf streichelte und mir sagte, dass er stolz auf mich wäre. Dummerweise bekomme ich die Situation nicht mehr rekonstruiert und hab keinen Schimmer mehr, welche Aktion meinerseits das in ihm ausgelöst haben könnte. Ich erinnere mich nur noch, dass mich mein Onkel Bernd, der meinen Bruder Thorsten, mich und meine Eltern auf diesem Trip begleitete, auch ziemlich verwundert anschaute.

Bernd – mein absoluter Lieblings-Onkel bis zum heutigen Tag. Er war nur wenige Jahre älter als ich und ich glaube, er hat auch damals mit dazu beigetragen, dass ich so früh schon so viel Musik gehört habe. Oft ist er in diesem Urlaub abends noch allein losgezogen “auf ein Bier” – leider ohne mich, denn dafür war ich wohl dann doch noch nicht erwachsen genug 😉 Mittlerweile drücke ich mich vor den meisten Familien-Events – seit Mama tot ist, tut es mir oft einfach weh, all diese Menschen zu sehen, die ich natürlich allesamt immer mit ihren Brüdern und Schwestern und deren Kindern verbinde. Aber wenn man mal wieder bei so einer Party ist, wo die Bande zusammenkommt, dann wird auch meistens wieder die Geschichte erzählt, wie wir alle von irgendeinem dieser Geschäftskontakte meines Vaters zum Essen eingeladen wurden:

Das große Fressen

Es war ein wunderschönes Restaurant und unsere ganze Familie war eingeladen. Gefeiert wurde ein Geschäftsabschluss und es war wie im Schlaraffenland. Wie gesagt: Weit gereist war ich noch nie und in einem wirklich tollen Restaurant war ich bis dahin wohl auch noch nicht. Da sitzt man dann plötzlich und es kommt ein Gang nach dem nächsten, Leckerei folgte auf Leckerei, riesige Fisch-Platten folgten auf wahre Spaghetti-Berge. Es wurde dunkel und die Erwachsenen waren schon längst zu Kippen und Bier übergegangen, selbst meine Mama trank Wein und musste später einräumen “leicht einen im Schlappen” zu haben. Sie kicherte viel und ich erinnere mich, dass ich das echt süß fand, meine Mama mal so ein bisschen angeschossen zu erleben.

Es war wieder herrlich warm und überhaupt war es ein wundervoller Abend, den wir da im Außenbereich dieses Restaurants verbrachten. Bernd und ich waren die Einzigen, die noch am essen waren. Keine Ahnung, wieso wir so viel in uns hineinstopfen konnten – es war einfach unfassbar lecker und nach dem Nachtisch konnte man einfach sagen, dass man immer noch Bock auf Nachtisch hatte – und die Verrückten karrten dann wieder ran. Es war ein reiner Traum!

Nach dem eigentlichen Essen hatten wir immer noch nicht genug: Im Restaurant stand ein riesiger Eisschrank und unser Gastgeber marschierte mit Bernd, Thorsten und mir da rein, damit wir uns ein Eis aussuchen durften. Zwei, drei Eis später konnten dann auch Bernd und ich nicht mehr und irgendwann ging es dann auch nach Hause.

Der Grund, wieso wir an gemeinsamen Abenden auch heute immer noch gern an diese Nacht zurückdenken, ist folgender: Wir Fünf erreichten unsere Ferienwohnung mitten in der Nacht und waren allesamt immer noch total im Fresskoma, als Bernd sowas sagte wie: “Och, ein Häppchen würde ich schon noch essen wollen”. Ich war direkt Feuer und Flamme für die Idee und es war ‘ne Dose Ölsardinen, die wir uns dann noch teilten. Ich glaube, der Blick meiner Mama war eine krude Mischung aus Verachtung, Völlegefühl, Ekel, aber auch ein bisschen Verwunderung – wir lachten uns jedenfalls alle fünf kaputt, was für verfressene Mistschweine Bernd und ich waren 😀

Loreto, Wallfahrtsort in der Nähe von Porto Recanati

Ich seh es schon kommen: Ihr habt euch den ganzen Scheiß bis hierhin durchgelesen und erwartet jetzt noch sowas wie einen Aufhänger, eine Message oder irgendeinen besonderen Spin. Sorry, da muss ich euch wohl enttäuschen 😀 Mein Hirn spielt mir manchmal einen Streich, und als ich eben eine Doku über Mailand sah, lief direkt in meiner Birne wieder dieser Film ab, der mit “Sono tedesco” begann.
Mailand ist nun wahrlich nicht meine Lieblingsstadt in Italien. Es gibt ein paar feine Ecken, aber im Grunde ist es eben eine Industriestadt.

Dennoch löst auch Mailand immer wieder dieses Erinnern an besondere Reisen aus. Einfach, weil ich Italien, die Sprache und diese oft so positiven Menschen so schätze, aber auch, weil ich in Mailand so viel Tolles erlebt hab: 1997 war ich zum ersten Mal dort, als meine Schalker dort – ausgerechnet an meinem Geburtstag – den UEFA-Cup holten und ich vor Glück heulend im San Siro (bzw. Giuseppe-Meazza-Stadion) stand und meinen Euro-Fightern zujubelte.

2006 dann waren meine Ex-Freundin und ich mit vielen lieben Freunden zusammen in Mailand, weil Depeche Mode am 18. und 19. Februar dort Halt machten auf ihrer “Touring the Angel”-Tour. Erinnert mich daran, dass ich unbedingt mal ein paar Fotos von diesen Trips hochladen muss – erinnert mich mal bitte später dran ^^

Das dritte Mal war ich dann “geschäftlich” unterwegs, als ASUS meinen Freund Carsten und mich eingeladen hatte anlässlich eines Smartphone-Launchs. Es war meine erste Reise als Vollzeit-Blogger und wird mir allein deshalb schon immer besonders im Gedächtnis bleiben.

Apropos Carsten: Wenn man ihn zu seinen Blog-Wurzeln befragt, dann sagt er oftmals, dass er auf dem Blog einfach Wissen auslagert. Halte ich für äußerst clever und wenn ihr immer noch der Frage nachgeht, wieso ich all das hier gerade aufschreibe, dann seht das als den passendsten Lösungsansatz: Dieses Bild, wie ich mit den Kids dort am Strand stehe und Fußball spiele, war schon ewig nicht mehr so deutlich vor mir, wie es in diesem Moment ist – und das nur, weil eben diese verkackte Doku lief. Also hab ich mir jetzt die Zeit genommen und es mal so gut rekonstruiert, wie es mein Kieselhirn noch hin bekommt. Ich bin sicher, mein zehn Jahre älteres Ich wird es zu schätzen wissen. 😀

Auf einmal sind auch viel mehr Bilder und Geschichten in meiner Birne: Wie wir auf diesem riesigen Markt in Civitanova Marche shoppen waren, den Monte Conero erklommen oder durch das Fischerdörfchen Numana spazierten. Oben hab ich ein Bild von Loreto eingefügt – auch so ein besonderer Ort. Es ist ein Wallfahrtsort und auch für jemanden wie mich, der schon damals nicht so richtig davon überzeugt war, ob es diesen Gott eben gibt oder eher nicht, war das sehr eindrucksvoll. Der Sage nach sollen Engel persönlich das Haus Marias nach Loreto geschleppt haben, die Italiener haben dann kurzerhand um dieses Haus eine fette Basilika gebaut – ein Haus im Haus, sozusagen.
Das Heilige Haus von Loreto ist der Legende nach das Haus, in dem Maria, die Mutter Jesu, aufwuchs und in dem sich die Verkündigung des Herrn ereignete.

Wissta Bescheid – selbst Erzengel Gabriel soll seinerzeit also in der Butze vorbeigeschaut haben. Der würde vermutlich Augen machen, wenn der wüsste, dass die Hütte mittlerweile in Italien zu finden ist. Andererseits… wenn wirklich Engel das Haus rübergeflogen haben, dann wird der Kollege Bescheid wissen. Soll mich aber auch nicht weiter interessieren gerade.

All diese Dinge jedenfalls, die vielen Spaziergänge, das köstliche Eis, selbst der penetrante Gummigeruch in den Shops mit all dem Strand- und Wasser-Krempel wie Luftmatratzen, Wasserbälle usw und all das ist gerade echt mal wieder so präsent wie schon ewig nicht mehr. Auch musikalisch war es ein sehr wichtiges Jahr für mich, auch wenn man zeitweise das Gefühl haben konnte, dass wir in unserem Urlaub nichts gehört haben außer “Vamos a la Playa”, “Every breath You take” und “Moonlight Shadow”. 😀

Es gab einen süßen kleinen Vergnügungspark, den wir damals besuchten – erfreulicherweise durften da auch Kinder an den Automaten zocken, was für mich als Atari-Hooligan natürlich ein reines Fest war 😉 Irgendwie ist es schon komisch, dass in meinem Kopf jetzt dieser Film abläuft. Ich hab eben diese Doku gesehen, bin – mit italienischer Musik auf den Ohren – durchs nächtliche Dortmund spaziert und schreib jetzt diesen Kram hier auf und bei jedem Bild, was ich hier festhalte, fallen mir schon wieder zwei neue ein.

Ich sehe meine Mama, die todesmutig ohne jegliche Italienisch-Kenntnisse mit meinem Bruder und mir einkaufen ging. Sie hatte sich dazu immer ihre ganz speziellen Einkaufszettel fertig gemacht: Sie schrieb auf, was sie brauchte und dahinter dann, wie es auf italienisch heißt – allerdings nicht so, wie es tatsächlich geschrieben wurde, sondern so, wie sie es aussprach. Sehr witzig, so im Nachhinein 😉 Keine Ahnung, ob da irgendwelche Synapsen in meiner Birne falsch verknüpft sind oder was – gerade freue ich mich aber wirklich über diese Erinnerungen.

Und nun? Während ich euch ratlos da vorm Rechner sitzen sehe mit der Frage im Kopf, wieso ihr gerade so viele Minuten verschenkt habt für eine Geschichte ohne Mehrwert und Pointe, plane ich, dass ich echt mal wieder nach Italien muss. Ich würde das alles super gern nochmal sehen wollen und einfach nochmal so unbeschwert am Strand in der Sonne brutzeln. Vielleicht mach ich das ja nächstes Jahr einfach mal. Bis dahin werde ich wohl noch ein paar Mal meine Italien-Playlist durchhören und den Gerhard Polt-Film “Man spricht Deutsh” krame ich auch sicher wieder hervor. Falls einer Bock hat, mit mir mal nach Italien zu gurken – lasst es mich wissen 😉

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