Song der Woche [5]: Do You Really Want To Hurt Me
Es war 1982 und ich war gerade mal 11 Jahre alt, als um Sackhaaresbreite der seidene Faden gerissen wäre, an dem meine Heterosexualität künftig hängen sollte. Damals schon war ich oft eins mit der Couch, so gesehen könnte man das als Konstante in meinem Leben betrachten. Eine weitere Konstante ist die Musik, denn genau wegen der saß ich dort damals tagtäglich nach der Schule im elterlichen Wohnzimmer am Radio mit dem Cassetten-Teil, hörte über Mittelwelle RTL und nahm in haarsträubender Qualität die neuesten Hits auf Tape auf.
Ich weiß noch wie heute, dass ich gleich mehrfach zu dämlich war, diesen Bandnamen richtig zu verstehen, wenn er angesagt wurde. Wie heißen die? Kölscher Club? In der Folge ertönte dann eine unfassbare Stimme und sang mir „Give me time to realize my crime“ ins Ohr und ich wusste, dass das mit „Kölsch“ alles nichts zu tun hat. Leider weiß ich nicht mehr, in welcher deutschen TV-Sendung ich dann schließlich Culture Club das erste Mal performen sah. Formel Eins gab es da tatsächlich noch nicht, ansonsten gab es ein paar Clip-Shows und einige Sendungen wie Vorsicht Musik oder den Musikladen, in dem Künstler live auftraten. Und ja, mit „live“ meine ich natürlich mehr oder weniger lippensynchrones Vollplayback.
Irgendwann stand er dann jedenfalls da, ein Typ namens George O’Dowd, der gar nicht aussah wie ein Typ, auch wenn er so hieß. Also er hieß natürlich nicht Typ George, sondern Boy George, ihr wisst schon. Sofort mit ihrem ersten Hit „Do You Really Want To Hurt You“ startete eine Weltkarriere und Boy George war das unumstrittene Aushängeschild dieser Band, stimmlich und optisch. Ich frage mich, ob Malcom McLaren sich manchmal noch in den Arsch tritt, denn er hatte damals eben jenen George in die von ihm zusammengebastelte Band Bow Wow Wow geholt, George aber genau so schnell wieder gekickt. Wer weiß, wofür es gut war, dass dieser Junge Mann, einer der legendären Blitz Kids Londons in der Folge mit einer anderen Band durchstarten sollte.
Ein bisschen Glück war wohl dabei, denn ich erinnere es so, dass die Band damals nur zu ihrem ersten „Pop of the Tops“-Auftritt kamen, weil der gute, alte Shakin‘ Stevens mit Erkältung flachlag und nicht auftreten konnte. Culture Club rückten spontan nach und der Rest ist Musikgeschichte. Ich war selbst nie ein so riesengroßer Fan der Band, also so auf lange Sicht betrachtet. Außer den ersten beiden Alben habe ich noch keines komplett durchgehört, muss ich zugeben.
Dennoch hat mich das unheimlich geprägt damals, mein Faible für außergewöhnliche Typen manifestierte sich anscheinend recht früh im Leben. Genau wie Culture Club vergötterte ich damals nämlich auch Adam & The Ants, die in ihrem Piraten-Look zwar komplett anders aussahen als Boy, aber mindestens so auffällig waren. Der junge Dave Gahan war im Vergleich dazu ja noch recht gesittet unterwegs optisch. Hier schließt sich übrigens ein Kreis zu dem eben Geschriebenen: Bow Wow Wow bestand nämlich neben der ebenso minderjährigen wie leicht bekleideten Frontfrau Annabella aus drei Musikern, die sich Malcom McLaren komplett von Adam Ant ausgeborgt hat. Und mit „ausgeborgt“ meine ich, er hat sie für relativ kleines Geld abgeworben. Adam Ants großer Durchbruch folgte dann just in dem Moment, in dem er sich seine neue Begleitband zusammengestellt hatte.
Aber zurück zum Culture Club: Als annähernd Pubertärer musste man damals cool sein. Mit meinem Faible für ABBA hielt ich damals in der Klasse lieber das Maul, die waren so alles andere als angesagt. Culture Club war als Typ auch irgendwie schwierig — eben, weil der Sänger aussah wie ’ne Olle. Dennoch war er vermutlich mein erster und wenn ich nichts übersehen habe einziger männlicher Crush meines Lebens. Und ganz ehrlich: Als ich mir im Vorfeld bei der Recherche zu diesem Beitrag ein paar alte Clips angeschaut habe, war ich im Grunde direkt wieder blitzverliebt in Boy George.
Damals stürzte ich mich auch in eine Taschengeld-dezimierende Bravo-Abhängigkeit. Bzw. las ich nicht nur die wöchentlich erscheinende Bravo, sondern auch die zweiwöchentliche Pop-Rocky und selbstverständlich die Popcorn, die einmal im Monat erschien. Boy George war natürlich überall und unzählige Mädchen eiferten ihm nach, imitierten seinen Look und ganz ehrlich: Die meisten Mädchen, die sich so zurecht machten, sahen weniger weiblich aus als der gute George.
Rückblickend kann man das natürlich mit so einem gechillten Nostalgie-Blick betrachten, aber man darf das echt nicht unterschätzen, was dieser Mann seinerzeit für einen Impact hatte. Ich war wie gesagt zu jung, um davon irgendwas mitzubekommen, ich fand ihn einfach nur beeindruckend. Spannend wird das erst in der Retrospektive und mit dem Wissen, wie sich die LGBTQ-Community in den letzten Jahrzehnten ja regelrecht befreien konnte. Noch heute ist es schlimm genug, wenn man anders ist — egal, ob es die sexuelle Ausrichtung, das Aussehen, beides zusammen oder noch irgendwas anderes. Aber damals gab es deutlich weniger Verständnis für Homosexuelle oder für Männer, die sich wie Frauen anziehen. Und auf einmal kam eben dieser Typ und hat auf all diese Konventionen geschissen.
Es ist noch gar nicht so lange her, da hab ich in einem Anflug aus „The Voice“-Begeisterung mal wieder halb YouTube leer geglotzt und stieß dabei auch auf Sendungen, bei denen Boy George, der übrigens in diesem Jahr 60 Jahre alt wird, in der Jury saß. Wenn ihr euch diesen Auftritt anschaut, den Look des Jungen und auf das hört, was er sagt, bekommt ihr vielleicht ein Gefühl dafür, welchen Impact Boy George auf die folgenden Generationen hatte und immer noch hat:
So Sätze wie „Sei Du selbst“ oder „Lass Dir nicht vorschreiben ,wer oder was Du zu sein hast“ sind so unglaublich leicht daher gesagt und klingen heutzutage wie Kalendersprüche, die man mit ’nem fancy Bild auf Facebook teilt. Dahinter steckt aber viel mehr und Boy George, der 1982 mit diesem schlichten Popsong, einem Liebeslied im locker-leichten Reggae-Gewand, die Charts dominierte, hat ganz vielen Menschen diese Tür aufgestoßen.
So oder so: Es ist für mich eine absolut zeitlose Nummer, eine, die man einfach nicht totdudeln kann und daher auch völlig logischerweise in meiner kleinen Song-der-Woche-Reihe dabei. Ich hör mal auf, denn ich glaube, ich mach die Nummer einfach nochmal an und tanze ein bisschen im Wohnzimmer — sieht ja niemand.
PS: Eigentlich wollte ich über einen anderen Song von Culture Club schreiben, da ich den eigentlich lieber mag als diesen hier. Aber Musik hat ja auch immer mit Stimmungen zu tun, daher passte das heute einfach besser. Irgendwann folgt dann sicher mal der andere und dann kann man auch noch ein paar andere Geschichten über diesen außergewöhnlichen Mann erzählen.
Artikelbild: Screenshot Bravo