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Awesommermärchen

Es sind keine guten Zeiten. Nicht allgemein, aber auch nicht für mich. Deswegen muss ich jetzt diesen Beitrag schreiben. Ich hab ja ’nen ganzen Arschvoll unfertiger Artikel, bei denen ich mich frage, wann ich die jemals beende. Aber akut arbeite ich an zwei Texten: Einen sehr wütenden, und einen traurigen, deprimierten. Aber hey, es ist Fußballeuropameisterschaft, also schreibe ich jetzt was über Fußball.

Aber auch diese Geschichte ist nicht frei von Traurigkeit. Es kommen so viele Erinnerungen hoch. Erinnerungen an 2006, an unser „Sommermärchen“, als die Welt zu Gast bei Freunden war und wir sie wirklich alle wie Freunde behandelt haben – okay, mit Ausnahme der Italiener, direkt nachdem sie uns mit 2:0 aus unserem Turnier gekegelt hatten.

Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, Traurigkeit. Gerade erst wieder überkommt mich diese Schwere, eine besondere Leere, dieses Gefühl, dass irgendwas fehlt und man verzweifelt versucht, wie man dieses Loch gefüllt bekommt. Ich bin sicher, ihr wisst, worauf ich anspiele: Nach einer fulminanten Vorrunde finden jetzt zwei Tage lang keine Spiele statt, bevor dann Samstag die KO-Spiele beginnen.

Also ja, ich fühle mich leer, würde gerne zwischen zwei Spielen und zwischen ARD/ZDF und RTL hin und her schalten, und nach dem Spiel in die Stadt gehen, um dieses EM-Flair gierig in mich aufzusaugen. Stattdessen sitze ich jetzt hier am Rechner und schreibe. Im Hintergrund läuft Lanz, der gerade eine Frau Wagenknecht amtlich zusammenfaltet. Das Einzige, was sonst noch läuft, ist der Schweiß, der mir den Rücken runterrinnt – ja, der Sommer ist wieder zurück und beschert uns auch knapp nach Mitternacht noch mediterrane 23 Grad.

Es ist also ganz vieles wie 2006, als so viele Menschen sich verwundert die Augen rieben, dass der Deutsche nicht nur freundlich sein kann, sondern sich mitunter durchaus sogar als Feierbiest entpuppt. Die langen Nächte auf dem Friedensplatz sind unvergessen, als in der einen Ecke brasilianische Schönheiten zu Sambaklängen tanzten, während wenige Meter weiter Engländer Oasis-Songs anstimmten und wiederum ein paar Meter weiter Schweden einen schweren Kampf gegen den Alkohol und die Schwerkraft kämpften und diesen schließlich taumelnd verloren.

Mittendrin waren wir. Trinkend mit den Schweden, mit Händen und Füßen gestikulierend, um die Menschen aus Trinidad und Tobago zu verstehen – und einfach happy, dass da so viele Leute in mein beschauliches und nicht übertrieben ansehnliches Dortmund kommen, um eine fantastische, vier Wochen andauernde Fußball-Party zu feiern.

Sommermärchen 2.0?

Und jetzt lässt man uns wieder ein Turnier ausrichten. 18 Jahre später. 18 Jahre sind eine lange Zeit. Kinder, die in der Nacht gezeugt wurden, als Oliver Neuville uns in der 90. Minute gegen starke Polen nach einer Flanke von David Odonkor zum 1:0-Sieg schoss, sind jetzt alt genug, um ihre besoffenen Väter mit deren Autos vom Fanfest nach Hause zu fahren. 18 Jahre haben aber auch an uns geknabbert. Nicht nur, weil wir alle fast zwei Jahrzehnte älter geworden sind. Die letzten Jahre waren nicht gut zu uns als Gesellschaft, nicht gut zum Fußball, nicht gut zum Planeten.

Wir schlitterten in eine schlimme Finanzkrise, nur ein Jahr nach der WM verlor ich meine Mama und aus Trauer beinahe den Verstand. Wenige Jahre folgte die „Flüchtlingskrise“, die uns auch heute noch beschäftigt. In einem anderen Artikel können wir uns mal über Begrifflichkeiten unterhalten, denn ich glaube, so etwas wie eine Migrationskrise gibt es nicht. Migration gibt es, solange es Menschen gibt, das ist was ebenso Natürliches wie Tag und Nacht, Sonne und Regen, Ebbe und Flut. Wir haben höchstens ein Migrationsproblem, aber das hat nichts mit Leuten zu tun, die von A nach B ziehen, sondern mit Politik und Organisation. Aber wie gesagt, das ist kein Thema für heute.

Tja, und dann kam das Krisen-Triple, bestehend aus Corona-Pandemie, dem Angriffskrieg der Russen gegen die Ukraine und dem zuletzt wieder aufgebrochenen Konflikt zwischen Israel und Palästinensern. Diese Krisen hatten dann ihre Geschwister im Schlepptau: Energiekrise, Inflation und dann ist da noch dieser Riss, der durch die Gesellschaft geht und der in vielen Ländern für unangenehm nationalistische Strömungen sorgt

In einer Zeit, in der intellektuelle Einzeller wie Trump, Söder, Spahn, Dobrindt, Merz, Weidel, Chrupalla, und so so so viele mehr ihren geistigen Durchfall in die sozialen Medien rülpsen und ein unangenehm großer wie dummer Teil der Gesellschaft dafür sorgt, dass das Gesagte dieser Populisten verfängt, findet also diese Euro 2024 in Deutschland statt.

Wir wollen nicht vergessen, dass der Sport und vor allem der Fußball in den vergangenen 18 Jahren sein Gesicht gewandelt hat. Turniere in Katar und Russland hätten wahrlich so nicht stattfinden dürfen, und die EM zwischendurch (2021 statt 2020) war eine Corona-geplagte. Es ist also wirklich eine Weile her, dass tatsächlich mal ein solches Fußball-Fest in einem Land gefeiert werden konnte, in dem der Sport auch wirklich eine Bedeutung hat.

Da sind wir jetzt also: Mittlerweile zu einer Nation verkommen, in der Leute hämisch lachen, wenn die Ukraine verliert In der Leute von morgens bis abends laut in jeder erdenklichen Ausprägung sagen, dass man ja nichts mehr sagen dürfe und die es als ein politisches Signal empfinden, wenn die Nationalmannschaft nicht genug weiße Haut besitzt und gleichzeitig auch noch in rosafarbenen Trikots antritt.

Jede Nachricht auf Facebook ertrinkt in Haha-Emojis, ganz egal, ob es um Fußball, um einen der aktuell wütenden Kriege, um vegane Würstchen, um Elektromobilität, um Politik oder sonst was geht. Leute, die eh schon intellektuell nicht ganz auf der Höhe sind, tun sich mit Menschen zusammen, die in diesem Wust an schweren Krisen finanziell und vielleicht auch gesellschaftlich unter die Räder gekommen sind, und spielen Mehrheitenbeschaffer für Parteien, die vielleicht demokratisch gewählt sind, aber ansonsten die Demokratie gerne mal mit Füßen treten.

Ist das das Umfeld, in dem wir ein Fußballfest feiern können? Klingt komisch, aber ja, dem ist so. Es passiert, jetzt gerade – und es tut so unendlich gut. Wie gesagt ist gerade ein spielfreier Tag und dennoch kamen mir eben beim Marsch durch die Innenstadt so viele Menschen in Nationaltrikots entgegen. Engländer feierten laut singend auf dem alten Markt – was mich zur Frage bringt: Was ist das eigentlich mit den Schotten und Engländern? Gefühlt tauchen die aktuell einfach in jeder Stadt auf, komplett unabhängig davon, ob die eigene Elf dort spielt oder nicht.

Das Zitat ist nur eines von so unzähligen, die beschreiben, dass da gerade eine ganz tiefe Liebe zwischen zwei Nationen entstanden ist. Es fühlt sich an, als hätten wir gerade gemeinschaftlich ganz Schottland adoptiert – und umgekehrt. Die Schotten erwiesen sich als trinkfest, als feierbesessen, aber auch als äußerst angenehm, hilfsbereit, großherzig und als diese Art von Gast, die man am liebsten nie wieder gehen lassen möchte. Aber gerade hier in Dortmund habe ich auch andere Nationen beobachten können, die unglaublich positiv auffielen. Als erstes gab es hier eine Invasion von Albanern. Logischerweise ganz viele Menschen, die nicht von weit her anreisten, sondern die mit albanischen Wurzeln schon lange in Deutschland leben.

Doch, es macht mich happy, die alle feiern, tanzen, singen und jubeln zu sehen, in schöner Eintracht mit ihren sportlichen Gegnern und auch mit Deutschen in weißen und rosafarbenen Trikots. Ich kann nur erahnen, wie es ist, mit diesen albanischen Wurzeln hier in Deutschland zu leben, wo Populisten derzeit so tun, als gäbe es in Deutschland nichts Schlimmeres als Menschen, die nicht blond sind und nicht in der 20. Generation hier leben. Wie fühlt es sich wohl an, wenn man stolz sein Albanien-Trikot überstreift und nicht schräg angeschaut wird? Es wurden schon lange vor Anpfiff ausgelassene Feste in der Stadt gefeiert und man blickte einfach nur in glückliche, vorfreudige und entspannte Gesichter.

Das setzte sich fort in den Tagen danach: Die Italiener und Franzosen waren da, aber auch Georgier und natürlich riesige Mengen von Türken und Polen. Nicht vergessen wollen wir den weiß-gewandeten Check24-Werbetross, der sich unter die feiernden Gäste mischte. Während irgendwelche AfD-Tonis noch darauf hoffen, dass die deutsche Mannschaft, die ihnen persönlich nicht deutsch genug ist, ausscheidet, ist längst das passiert, was diese schlechten, missgünstigen Menschen nicht wahrhaben möchten: Wir haben wieder ein Sommermärchen!

Ganz ehrlich: Ich mag die neue deutsche Elf und ihre Art zu spielen, auch wenn es gegen die Schweiz hart war, einen Punkt zu ergattern. Aber dennoch glaube ich, dass wir nicht sehr weit kommen werden. Vielleicht überstehen wir noch das Spiel gegen die Dänen, aber spätestens gegen Spanien fehlt mir die Fantasie, dass wir diese Elf besiegen können. Aber wisst ihr was: Das ist einfach scheißegal! Weil „Sommermärchen“ nicht bedeutet, dass man im Turnier weit kommen muss. Es bedeutet vielmehr, dass die Gesellschaft mal kurz durchatmen kann, Nationen zusammenkommen und endlich mal wieder erstaunt feststellen können, wie ähnlich sich die Völker doch allesamt sind.

Wir wollen schließlich alle nur klarkommen, glücklich werden, in Frieden leben und dabei zusehen, wie der Scheißball die richtige Torlinie überquert. Der Bodensatz treibt sich statt in den Stadien, den Städten und den Fanfesten natürlich lieber im Netz herum und hetzt. Abartig, wie dort beispielsweise über die Ukraine gelacht wurde, die sich mit vier Punkten äußerst stark aus dem Turnier verabschiedet hat. Aber das ändert nichts daran, dass draußen in der echten Welt gefeiert wird und sich die Menschen bestens verstehen.

Gestern bin ich extra zum Stadion gefahren, kurz bevor das Spiel der Franzosen gegen Polen endete. Ich wollte einfach in dieses blau-weiß-rote Meer aus Polen und Franzosen eintauchen und dabei zusehen, wie sie einträchtig vom Stadion Richtung Innenstadt zogen. Oben im Bild seht Ihr dieses schöne Paar – Griezmann und Kroos – aber auch unabhängig davon konnte ich unzählige Verbrüderungen zwischen den Fans beobachten. Ich musste lachen, als abends im Rewe direkt vor mir ein „Giroud“ im Trikot an der Kasse stand und er natürlich was kaufte? Logisch, Croissants ^^

Erinnert mich an die Szenen aus Dortmund, als Italiener gespielt geschockt dabei zusehen mussten, wie Albaner vor ihren Augen Spaghetti zerbrachen. Ich sah gestern so viele glückliche Menschen und das nach einem Spiel, bei dem die Franzosen hinter den Erwartungen zurückblieben und die Polen ja leider sogar bereits aus dem Turnier ausgeschieden waren. Ich sah eine hohe Dichte an Lewandowski-Trikots bei den Polen, während es bei den Franzosen so aussah, als liefern sich in Sachen Beliebtheit Mbappé und Zidane ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Ich weiß genau: Wenn Deutschland gegen Dänemark oder Spanien ausscheidet (oder egal gegen wen und wann), werden wieder unzählige Arschlöcher versuchen, eimerweise Häme, Hass und Schadenfreude über das deutsche Team auszuschütten. Aber es ändert nichts daran, dass man den Geist nicht zurück in die Flasche bekommt. Mir fehlt die Fantasie, ob so ein Turnier über den Sport hinaus nachhaltig etwas verändern könnte, also irgendeinen positiven Impact hat. Aber selbst im allerschlimmsten Fall wird es so sein, dass viele Menschen für einige Tage oder Wochen mal wieder spüren durfte, wie es ist, wenn man zusammenhält, zusammen feiert und zusammen leidet, sich als eine Gemeinscahft fühlt, komplett unabhängig davon, wie man aussieht und welche Sprache man spricht.

Wieder denke ich an diese ganzen Teenager in albanischen und türkischen Trikots, die die Nacht zum Tag machten und sich endlich mal nicht wie eine Minderheit fühlen mussten, sondern glückselig mit Ihresgleichen sangen und tanzten. Wir dürfen ja auch nicht vergessen, dass gerade junge Menschen diesen Fußballzauber gar nicht kennen, der für uns selbstverständlich ist. WM in Katar, davor in Russland, jeweils mit deutschen Teams, die sich früh verabschiedeten. Dazu eine Corona-EM – und jetzt also endlich wieder die große Fußball-Party, auf die wir Alten hofften, und die die Jungen gar nicht kannten.

Am Anfang wollte der grumpy Misanthropen-Grinch, zudem ich ab und an mutiere, junge Fans kacke finden, die ihre Daten verschachern, um ein Check24-Trikot zu ergattern und die übertrieben überschwänglich feiern, dass Deutschland sportlich leider schwache Schotten deutlich wegfidelte. Ich kann es nicht. Ich kann es nicht kacke finden, dass da deutsche Fans feiern. Ganz unabhängig davon, ob die vorher jemals ein Stadion von innen gesehen haben, oder irgendwelche Spielernamen kennen. Als ich 15, 16 oder 17 war, habe ich doch auch jede Gelegenheit zum Feiern wahrgenommen, also sollten wir vielleicht auch diesen jungen Menschen, dass sie sich einfach mal gehen lassen und ausgelassen durch Dortmunds nächtliche Straßen gröhlen.

Übrigens, bevor ich dann langsam mal zum Ende komme hier: Sehr, sehr viele Menschen in Deutschland-Trikots machen auf mich den optischen Eindruck, als haben sie türkische, nordafrikanische und arabische Wurzeln. Die identifizieren sich also mehr mit diesem Land als die AfD-Hansels, denen unser Team nicht weiß genug ist. Und ich glaube, dass es genau das ist, worum es bei diesem Turnier und unserem „Sommermärchen“ geht: Wir müssen es nicht gewinnen, also aus sportlicher Sicht Aber aus gesellschaftlicher Sieg haben wir bereits gewonnen – weil wir es gerade alle auf den Straßen sehen, dass es die Jungen sind, die den Alten vorleben, wie normal es ist, in Deutschland eine Migrationsgeschichte zu haben.

Die deutsche Elf auf dem m Rasen ist ebenso vielfältig wie das jubelnde Volk in der Stadt. Und das ist genau das Bild, was ich aus diesem Turnier mitnehmen möchte: Dass da eine Generation heranwächst, die ihre Herkunft stolz im Herzen trägt und dennoch glücklich ihre Heimat Deutschland feiert. Ihr Hater und Griesgrame und Stolzmonat-Amöben: Ihr könnt lachen und schimpfen und hetzen, wenn ihr wollt. Aber es ändert nichts daran, dass die Leute, die ihr wegschicken wollt, Deutschland mehr feiern, als ihr es je könntet.

Ich versuche mir diese Bilder alle im Kopf (und in Google Fotos) zu bewahren, weil ich genau weiß, dass mir miese Kommentare schon bald wieder Magengeschwüre und Weltuntergangs-Fantasien bescheren werden. Egal, über was wir uns morgen oder in ein paar Wochen ärgern werden: Dieses Sommermärchen – oder sogar Awesommermärchen – nimmt mir niemand mehr. Ich gehe jetzt ins Bett, singe mich mit „Füllkrug mit Bier“ in den Schlaf – und dann träume ich heimlich doch vom Titel …

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