MusikPolitik und Gesellschaft

Jerusalema: Mehr tanzen, weniger meckern

Eigentlich ist das hier die Geschichte von Moagi, der aus einem Dorf in der armen Provinz Limpopo im Norden Südafrikas stammt. Er war schon als Kind begeistert von Musik und wollte selbst mal Musiker werden und Songs am Computer basteln. Problem: Moagis Familie konnte sich keinen Computer leisten. So sah er schon als 12-Jähriger Anderen dabei zu, wie sie an ihren Rechnern Beats und Songs bastelten und nervte seine Familie so lange, bis irgendwann ein Onkel einen alten Rechner auftreiben konnte. Fortan machte er sich an die Arbeit und schraubte an eigener Musik, aber es sollte noch bis 2018 dauern — der Junge war mittlerweile 22 Jahre alt — bis seine erste Single in Südafrika erschien.

Sie war direkt ein Hit und die Eltern, die bis dahin wenig happy damit waren, dass sich in Moagis Leben alles um Musik drehte, waren besänftigt und unterstützen ihn nun längst nach Leibeskräften bei seiner Karriere.

Sprung ins Jahr 2020: Deutschland befindet sich im zweiten Lockdown, die weltweit grassierende Corona-Pandemie hat den ganzen Planeten arg gebeutelt. Kurz vor Weihnachten tauchen immer mehr Tanz-Videos auf — wieder einmal eine dieser vielen viralen Challenges, die wir über die Jahre kennenlernen durften. Der Song zur Challenge — Jerusalema — stammt von eben jenem Moagi, der den Song allerdings schon 2019 unter seinem Künstlernamen Master KG veröffentlichte.

Er wurde erneut ein Hit, auch über die Landesgrenzen hinaus. So tanzte man auch in Angola begeistert zu diesem Lied, welches sich einfach in jedem Gehörgang festsetzt und mit seinem angenehmen, chilligen Feeling dort auch nicht mehr verschwinden will. Aus Angola kamen dann auch die ersten Tanz-Videos, heißt es, die noch vor der Pandemie die Runde machten. Es dauerte noch einige Monate, aber seit dem Sommer tanzen mehr und mehr Menschen zu „Jerusalema“ und jetzt gerade scheint diese Jerusalema-Challenge ihren Peak auch in Deutschland erreicht zu haben.

Überall stellen Menschen ihre Tanzvideos ins Netz, oft mit vielen, vielen Menschen choreografiert. Ganz oft sind es Pflegekräfte, die ganze Krankenhäuser zu ihrem Dancefloor machen, aber auch Polizisten, Angestellte von Kaufland oder von Bäckereien. Allen Video gemein ist dieses Gemeinschafts-Ding: Mit mehreren Kollegen eine Choreographie einstudieren (in Krankenhäusern werden teils sogar Patienten mit einbezogen) und unter Einhaltung der Corona-Regeln mit Abstand und Maske jede Menge Spaß mit den Kollegen haben, einfach mal den Pandemie-Stress kurz vergessen.

Dance-Challenges an sich und die Jerusalema-Challenge im Besonderen

Persönlich touchen mich meist solche Challenges nicht. Hätte man in meinen damaligen Firmen bei der GEHE oder bei DHL sowas aufgezogen, wäre ich wohl der Erste gewesen, der sich schnell verpisst, um bei der Hampelei nicht mitmachen zu müssen. Aber so eine Challenge tut niemandem wirklich weh, verbreitet unter den Leuten, die dran teilnehmen, jede Menge Spaß und den Menschen, die es sich anschauen, geht es oft ebenso.

In diesem speziellen Fall berührt es mich aber irgendwie doch. Das liegt auch daran, dass es ein sehr angenehmer Song ist, mit Ohrwurm-Charakter und vorgetragen von einer sehr einschmeichelnden Stimme. Die Nummer ist in Zulu gesungen und der Text ist im Grunde ein Gebet mit der Bitte an Gott um Hilfe und Schutz und dem Wunsch, Jerusalem erreichen zu können. Der Text stammt von der Sängerin Nomcebo Zikode, mit der zusammen Master KG das Lied aufgenommen hat.

Bereits im August berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung über dieses Phänomen, welches das Netz mit Videos überzog und dafür sorgte, dass Jerusalema weltweit in zehn Ländern die Spitze der Charts erklomm, darunter auch in europäischen Ländern wie Frankreich, Portugal und Italien. Aktuell können wir also auch in Deutschland dieser Challenge nicht entkommen und tatsächlich schaue ich mir immer noch so ziemlich jedes Video an, über das ich stolpere.

Das hängt wohl auch damit zusammen, dass es ein hoffnungsvoller, positiver Song ist — etwas, was die Menschen in Zeiten der Pandemie näher zusammenbringt. Zu sehen, wie Menschen in Krankenhäusern vergnügt tanzen, in wenig vergnüglichen Zeiten, ist für mich reinstes Seelenbalsam. Wir reden seit Jahren über ein marodes System, in dem der Gesundheitssektor kaputtgespart wurde und bei dem die Angestellten der Pflege-Branche schon vor der Pandemie auf dem Zahnfleisch gingen.

Tagtäglich stehen sie an der Front und kämpfen im Schweiße ihres Angesichts um Menschenleben. Ich mag mir nicht ausmalen, wie es sein muss, bis zum Rande der Erschöpfung diese so wertvolle Arbeit zu leisten, nur um festzustellen, dass trotzdem viel zu viele Leben nicht gerettet werden können, Idioten sich immer noch unverantwortlich verhalten und der Blick auf den Gehaltsscheck beweist, dass diese Knochenarbeit finanziell nicht hoch genug gewürdigt wird. Das bekommt man auch nicht dadurch kompensiert, dass wir uns hinstellen und für diese Menschen applaudieren. Ich glaube, seit März klatscht auch sowieso niemand mehr, aber das ist ja hier auch gar nicht das Thema.

Jedenfalls erfreut es mein Herz, wenn ich sehe, wie diese Menschen Spaß an der Challenge haben und signalisieren, dass es auch in solchen Zeiten mehr gibt als nur diese verdammte Pandemie und wirtschaftlich angeschlagene Nationen, wohin man blickt. Es gibt noch dieses Zusammengehörigkeitsgefühl und es gibt glücklicherweise noch den ab Werk irgendwo im Betriebssystem des Menschen verankerte Schutzfunktion, die es uns erlaubt, selbst in einer schlimmen Situation auch mal kurz abschalten zu können. Daher macht es mich happy, diese Menschen tanzen zu sehen — und das gilt eben nicht nur für die Menschen in Pflegeberufen, sondern auch für jeden Angestellten im Einzelhandel, jeden Polizisten, alle Schüler und sonst jemandem, der an dieser kurzweiligen Tanzerei teilnimmt.

Zum „Glück“ gibt es aber immer was zu meckern

In einer Welt ohne Querdenker, die eigentlich nur Nicht-Denker oder Nur-an-sich-Denker sind, könnte dieser Artikel jetzt eigentlich zu Ende sein. Ich würde noch ein Video mit einer entsprechenden Choreographie posten und es wäre eine nette Geschichte mit dem Tenor, dass einen das Internet eben manchmal noch aus dem Nichts happy machen kann.

In dieser Welt leben wir aber leider nicht und deswegen kann man sich auch nicht einfach mit den Menschen mitfreuen, die diese Videos produzieren und verbreiten. Nicht nur in Deutschland, aber hier anscheinend besonders ausgeprägt, gibt es nicht nur viele Millionen Bundestrainer und seit diesem Jahr auch Virologen — Deutschland ist auch ein Volk der passionierten Haar-in-der-Suppe-Sucher.

Deswegen ist es auch klar, dass sich unter den geposteten Videos unzählige Menschen empören, statt einfach mal die Schnauze zu halten. Ihr innerliches Maßband schlägt an, weil manche tanzende Menschen in dieser einen Sequenz nicht die 1,50 Meter Abstand einhalten. Außerdem wird so ein Video sogar als Beweis gewertet, dass das mit dieser Pandemie eben doch alles nicht so schlimm ist. Wie schlimm kann Covid-19 schon sein, wenn diese Faulenzer in den Krankenhäusern sogar noch Zeit finden, aufwendige Videos zu produzieren und Tänze aufzuführen? Sorry, Leute — bei so einer Argumentation aus der Hölle platzt mir einfach der Sack! Wie empathiebefreit muss man sein, diese Empörungs-Nummer so konsequent durchzuziehen? Und wie weltfremd muss man sein, um diese — oft in der Freizeit produzierten — Videos nicht einigermaßen realistisch einordnen zu können?

Dieses ewige Gegen-Alles-Sein macht mich rasend und verspielt direkt wieder viel von dem Glauben an die Menschheit, welchen die eigentliche Challenge ja befeuert hat. Es geht sogar soweit, dass man eben abwägt, ob diese Challenge eben genau deswegen eine schlechte Idee ist, weil man ja weiß, dass es da draußen diese Low-Brainer gibt, die die Message ganz bewusst falsch verstehen möchten.

Ich verstehe, dass man sich darüber Gedanken macht. Dass es diese geistigen Einzeller gibt, sorgt nämlich leider dafür, dass man deren Denkweise auch immer irgendwie einpreisen muss in diesen Tagen. Dennoch bin ich felsenfest überzeugt davon, dass man genau deswegen jetzt dagegenhalten muss! Es kann nicht sein, dass man gute, positive und unbedenkliche Dinge unterlässt, weil es Gestalten gibt, die es schlechtreden, diskreditieren, verurteilen und fehldeuten wollen. Lasst das bitte nicht zu, Leute! Wir können eine Tanz-Challenge mögen oder kacke finden, das ist alles legitim. Aber wir dürfen sie nicht toll finden und sie dann trotzdem ablehnen, weil man sich sorgt, dass diese Nasen sie umdeuten und für ihre Zwecke missbrauchen.

So, und zum Abschluss haue ich hier tatsächlich noch so ein Tanz-Video rein — kann man ja nicht oft genug sehen 🙂 Lasst uns lieber wieder mehr tanzen und weniger meckern — schadet ganz sicher nichts. Ganz liebe Grüße gehen raus an Sonia und Thomas aka Fabri, mit denen ich ebenfalls über dieses Thema sprach.

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