Die Sache mit den verschiedenen Realitäten
Hallo, kennt ihr mich noch? Ein paar Tage habe ich jetzt nichts geschrieben – ich hatte ja angekündigt, dass das passieren könnte, dass hier nicht mehr jeden Tag was passiert. Das hängt damit zusammen, dass ich natürlich deutlich weniger Zeit habe als noch im Dezember – eine Tatsache, bei der ihr euch denken könnt, dass ich darüber nicht wirklich böse bin. Es hängt aber auch damit zusammen, dass mich vieles im Netz zuletzt wieder sehr genervt hat und ich das Gefühl hatte, dass meine Artikel nichts als wütende Rants geworden wären, die niemanden wirklich weiter bringen, nicht mich und erst recht nicht euch.
Ich hab das Gefühl, auch immer noch wütend zu sein und das wird sich auch so schnell nicht komplett legen, aber ich bin zumindest nicht mehr im Rage-Modus – also glaube ich zumindest. ^^
Nach wie vor fühle ich mich so ohnmächtig und habe einfach null Ideen, wie wir wieder dahinkommen können, dass wir zumindest eine Basis für Diskurs finden können. Es gibt manchmal einfach verschiedene Sichtweisen, das ist okay. Das hat mit verschiedenen Lebensentwürfen zu tun, verschiedenen Situationen, in denen man sich befindet und mit verschiedenen Zielen. Aber es muss doch eine Realität geben, auf die wir uns verständigen können.
Rot vs Blau
Dazu mal kurz ein kleiner Exkurs, wo ich gerade von verschiedenen Realitäten sprechen, weil ich es für einen merkwürdigen Zufall halte. Just in dem Moment, in dem ich darunter leide, dass ich in den sozialen Medien auf so viele Menschen treffen, die in einer anderen, nicht wirklich existenten Realität existieren, versuche ich mich hier nämlich mit anderen Dingen bei Laune zu halten. Schaue Netflix, latsche wieder mehr (hab Freitag tatsächlich eine Runde zusammen mit Jassi gemacht, eine sehr schöne Abwechslung!) und schaue viele YouTube-Clips, die zur Abwechslung mal nichts mit Politik zu tun haben.
Und genau da bin ich auf den Zukunftsforscher Sven Gabor Janszky von 2b Ahead gestoßen, der in seinem Vortrag ebenfalls von verschiedenen Realitäten spricht. Der entscheidende Unterschied: Diese Realitäten existieren gleichberechtigt nebeneinander. Es geht nämlich darum, wie wir uns das Leben in der Zukunft vorstellen. Da gibt es Menschen, die eher konservativ denken. Die gehen davon aus, dass die Entwicklung eher eine gemächliche sein wird und es gibt die anderen, die ein ganz anderes Szenario im Blick haben, welches deutlich disruptiver erscheint. Janszky zeigt uns diesen Gap zwischen zwei verschiedenen Realitäten in einer Grafik, in der es eine nur sehr schwach steigende blaue Kurve gibt und eine exponentiell steigende rote Kurve.
Es ist wie mit Schrödingers Katze: Man weiß heute halt noch nicht, was für eine Realität eintreten wird. Ich finde den Vortrag sehr spannend, gerade mit Blick darauf, dass er schon zwei Jahre alt ist. Janszky erklärt auch den Unterschied zwischen der roten und der blauen Linie recht schön: Am Beispiel Gesundheit spricht er davon, dass bei der Frage nach großen Trends hierzulande von Investoren gerne „Digital Health“ genannt wird, mit Blick auf praktische Apps, die es geben wird. Investoren mit mehr Weitblick, die beispielsweise einen guten Draht zu den Entscheidern im Silicon Valley haben, investieren bei der Gesundheit lieber in Unternehmen, die sich einem ganz anderen Ziel widmen als schnöden Health-Apps: Die befassen sich mit dem Thema Unsterblichkeit und wie man dahin kommt. Wenn euch sowas ähnlich interessiert wie mich, schaut doch auch gerne mal ins Video rein.
Zurück zum weniger schönen Reality Gap
Ich habe das jetzt kurz eingeschoben, weil ich fasziniert bin von Technologien generell und weil ich wie gesagt darüber gestolpert bin, dass dort zwei verschiedene Realitäten erst einmal nebeneinander existieren können. Bei den Menschen, die mich in den sozialen Medien bescheuert machen, geht es um einen komplett anderen Reality Gap, nämlich der Lücke zwischen der tatsächlichen Realität und der vermeintlichen Realität, wie diese Leute sie gerne hätten. Die Wahl ist gestohlen, Trump wird Biden demnächst wieder als Präsident ablösen, Corona ist eine Lüge oder nur eine Grippe, Menschen aus allen Ländern wollen nach Deutschland usw – von dieser Art falscher Realitäten spreche ich.
Ich würde dazu gerne jetzt was Kluges schreiben, aber ich weiß einfach nicht, was. Ich habe keine Idee, wie wir da tatsächlich wieder hinkommen können, dass wir uns auf eine solide Faktenbasis verständigen, mit der wir leben können und auch die Menschen mit einer komplett anderen Meinung. Ich möchte, dass – wenn wir zum Beispiel über die US-Wahlen, über Republikaner und Demokraten sprechen – dass wir uns unabhängig von unserer Meinung und politischen Gesinnung darauf verständigen können, dass das Kapitol in Washington von Trump-Anhängern gestürmt wurde und das Trump dazu beigetragen hat, dass sich die Dinge so entwickelt haben.
Um das festzustellen, muss ich keine Informationen der linksgrün-versifften Staatsmedien ohne zu Hinterfragen hinnehmen, weil ich ja schließlich ein Schlafschaf bin und nicht mehr alleine denke. In den Satz hab ich jetzt mal einiges davon zusammengefasst, was ich mir immer und immer wieder anhören muss. Unter anderem muss ich mir das anhören von Leuten, die mir erzählen, dass es „die Antifa“ war im Rahmen einer False Flag-Aktion, die Capitol Hill erstürmt hat. Es gibt aber nun mal das ganze Material, welches das nahtlos dokumentiert, wie Trump die Leute aufstachelt, sie selbst gen Capitol Hill schickt (und noch erzählt, dass er mit ihnen geht) und man sieht, wie diese Menschen losmarschieren und dann schließlich dort eintrudeln.
Genügend dieser Menschen sind längst identifiziert und festgesetzt und daher weiß man auch, dass sie aus rechten Blasen stammen und keine False-Flag-Muppets sind, die uns da was vorspielen wollen. DAS ist etwas, auf das ich mich verständigen können möchte, egal ob mein Gesprächspartner Demokrat ist oder Trump-Fan. Ich weiß nur nicht, wie wir dahin kommen können und das macht mich fertig. Ich glaube, manchmal vergreife ich mich dann in den Kommentarspalten auch schon mal im Ton, wenn ich auf besonders dreiste Menschen treffe, aber ich bemühe mich, Leute nicht mehr zu beschimpfen, sie nicht auf ihre Rechtschreibfehler zu reduzieren und im Ton zumindest so ruhig zu bleiben, dass von meiner Seite keine Eskalation des Diskurses ausgeht. Insgeheim hoffe ich darauf, dass das alle anderen auch so machen.
Wenn dem so wäre, wäre eine Menge gewonnen, weil man dann tatsächlich mal auf einer Sachebene ankäme, auf der mein Gegenüber zum Beispiel erkennen könnte, dass ich kein regierungstreuer Zombie bin, sondern die Regierung durchaus auch für so manches kritisiere. Wenn wir da ankommen würden, also bei „ich finde nicht alles richtig, was die machen, aber …“ vs „Ich finde nicht alles falsch, was die machen, aber …“, dann könnte man tatsächlich reden. Manchmal funktioniert das noch und das ist wichtig, weil die Welt nicht besser wird, wenn wir nur noch innerhalb unserer Bubbles kommunizieren.
Aber es ist ein harter, steiniger Weg, bei dem ich befürchte, dass der Ton in nächster Zeit erst noch rauer wird, bevor es dann irgendwann vielleicht mal wieder besser wird. Deswegen möchte ich auch so gerne an euch appellieren, es ebenso zu versuchen wie ich: Selbst, wenn jemand übelste Verschwörungstheorien raushaut, kann man ihm das sagen, ohne ihn persönlich beleidigen zu müssen. Versucht Leute, auf einer Sachebene zu erreichen – das wird vermutlich in 95 Prozent der Fälle die angesprochene Person nicht zum Umdenken bringen. Aber denkt dabei an die stillen Mitleser, die erkennen können, dass es da Leute gibt, die ihre Meinung eben vernünftig vortragen, ihr Gegenüber nicht beleidigen und die mit tatsächlichen Fakten arbeiten. Wie gesagt, das ist eine Mammutaufgabe und ich kann jeden verstehen, der sagt, dass er sich da lieber raushalten möchte. Aber wünschen würde ich mir, dass viel mehr Menschen den Mund aufmachen würden und das eben auf eine gesittete Art und Weise, die einen nicht angreifbar macht. Wenn wir da nicht wieder hinkommen können, haben wir tatsächlich ein Problem.
So, genug gegrübelt. Ich werde mich jetzt ins Bett begeben und lieber noch irgendeine Zukunfts-Doku anschauen oder einem entsprechenden Vortrag lauschen. Meistens finde ich da so viele wundervolle Gründe um zu glauben, dass die Gesellschaft mal eine so viel bessere wird, selbst wenn es in den nächsten Jahren nochmal deutlich schlimmer wird. Der oben erwähnte Zukunftsforscher bezieht in seinem Vortrag zum Beispiel oft seinen dreijährigen Sohn mit ein und spricht darüber, in was für einer Welt der in etwa 100 Jahren leben wird. Und der Gedanke beruhigt mich tatsächlich: Wenn ihr Kinder habt, egal ob sie 2 Jahre oder 12 oder 22 Jahre alt sind: Wir können davon ausgehen, dass diese allesamt noch miterleben werden – und vielleicht selbst wir noch, dass Probleme wie Hunger und nicht verfügbares Trinkwasser für jeden Menschen weltweit gelöst werden. Wenn ich dann zwischen zwei Realitäten wählen muss, von denen mir die eine das in 50 Jahren und die andere das in 80 Jahren verspricht, dann bringt mir das so viel mehr, als mich über Schein-Realitäten mit verimpften 5G-Chips oder ähnlichem Scheiß zu reden. Da mittlerweile Montagmorgen ist: Kommt gut in die neue Woche!
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