Privates

Happy Birthday!

Hey, wir haben uns ja ganz schön lange nicht mehr unterhalten, was? Also ja, klar – schwierig, weil Du ja auch irgendwie seit 17 Jahren mittlerweile nicht mehr da bist. Mein Gott, echt schon 17 Jahre … und als Du gingst, warst Du 58. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, bedeutet das: Alles Liebe zum 75. Geburtstag, Mama! Ich hätte fast ein bisschen Bock auf so kitschigen Scheiß wie „Gibt es auf Deiner Wolke auch Geburtstagstorte?“ oder so, aber wir wissen beide, dass ich an keinen Gott glaube und somit auch nicht daran, dass Leute in einen Himmel kommen und auf Wolken rumlungern.

Irgendwie ist es schräg, wenn ich an Dich denke und dabei diese 58-jährige Frau vor Augen habe. Schräg deswegen, weil ich jetzt lediglich fünf Jahre jünger bin und ich staunend darüber nachdenke, wo die Zeit geblieben ist. Ich will natürlich am liebsten noch einmal 53 Jahre hier rumhängen, aber ganz ehrlich, Mama? Ich weiß ja nicht mal, ob ich Deine 58 Jahre erlebe. Sei froh, dass Du mich nicht sehen kannst, denn ich bin echt fett. Was sagst Du? Nee, nee – ich meine richtig fett. Knapp 150 Kilo, also circa dreimal so viel wie Du.

Ja klar, ich versuche natürlich immer wieder, ein paar Pfunde loszuwerden. Das geht zehn, zwölf Kilo lang auch immer gut, aber dann passiert wieder irgendwas, weißt Du? Entweder ist man ’ne Woche in Las Vegas und wird ständig zu fettigem Essen eingeladen, oder die Depression kickt wieder rein und verhindert, dass man sich vernünftig ernährt.

Puh, mir fällt gerade auf, dass Du das mit Las Vegas ja gar nicht einordnen kannst. Und das mit der Depression auch nicht. Witzige Geschichte – hat nämlich beides irgendwie mit Dir zu tun. Zunächst mal das mit der Depression: Eigentlich war ich nach der Diagnose fast sogar erleichtert. Nicht, weil man so gerne depressiv ist, aber weil es so viele Dinge aus der Vergangenheit besser nachvollziehbar macht. Ich hatte das also damals schon in mir, und ich dachte aber, ich bin nun mal so ein typischer Misfit, einer von diesen Außenseitern in der Schule, die nur in Howard-Hughes-Filmen cool sind.

Was? Doch, Du kennst Howard Hughes. Also nicht persönlich jetzt, aber die Filme. Es gab kaum ein Video-Wochenende bei uns, an dem wir nicht mit einem Film von ihm aus der Videothek nach Hause kamen. L.I.S.A. – der helle Wahnsinn, Kevin – Allein zu Haus, Ferris macht blau, Ist sie nicht wunderbar, Pretty in Pink – alles Hughes-Filme. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, die Depression. Dein Tod riss mir einfach den Boden unter den Füßen weg, und ich funktionierte einfach nicht mehr. Nicht mein Körper, nicht mein Kopf – und ohne Dich war mein Herz irgendwie auch im Eimer. Ach, apropos „Herz“ und „im Eimer“ – mit Katharina bin ich auch schon lange nicht mehr zusammen. 2011 war Schluss – und seitdem bin ich auch irgendwie allein geblieben. Ist manchmal okay und manchmal schlimm. Gerade ist es wieder zum Kotzen, glaub mal.

Und ja, es gab Gelegenheiten und auch Menschen, die gerne mit mir zusammen sein wollten. Aber ich nicht mit denen. Ich verliebe mich halt nicht oft, weißte ja. Ich hab sogar noch Kontakt zu Katharina. Und ja, sie ist noch genau derselbe wundervolle Mensch wie damals, eine der liebsten Seelen auf diesem Planeten. Nur, dass sie halt mit wem anders zusammenwohnt, die unverschämte Person 😉

Jedenfalls weiß ich heute, dass diese Depression immer schon in mir war. Nicht nur irgendeine diffuse Melancholie oder so ein „ach ja, ich muss ja mies drauf sein, weil ich dunkle Musik höre“ und so weiter. Wegen der Depression habe ich dann auch angefangen zu schreiben, also Texte im Internet. Ich brauchte einfach ein Hobby, mit dem ich mich ablenken konnte, das aber nichts mit allen Menschen zu tun hatte, mit denen ich üblicherweise gerne Zeit verbrachte. Weiß nicht, ob Du das verstehst, aber ich konnte es eine Zeit lang einfach nicht ertragen, dass deren Leben so normal weitergingen, während meines doch gerade durch Deinen Tod zerbrochen war.

Ich hab mich also total abgekapselt und dann angefangen, viel in Blogs zu lesen. Über Musik, aber auch viel über Technik und übers Internet. Du hast das ja gar nicht mehr so mitbekommen, wie sich das Internet entwickelt hat. YouTube, Facebook, Twitter usw. kennste ja gar nicht. Ich hab jedenfalls auf meiner eigenen kleinen Seite im Netz dann selbst darüber geschrieben und so kam ich dazu, irgendwann auch für andere Seiten Artikel zu schreiben und ein bisschen Kohle dafür zu bekommen. Das wurde irgendwie alles immer größer, nachdem ich Palle kennenlernte und ich bei ihm und für seine Seite schrieb. Witzige Geschichte am Rande: Er ist nicht nur mein Ex-Chef, der mich damals aus diesem Mistladen DHL rausholte und zu einem Blogger und Tech-Redakteur machte, sondern seit ein paar Monaten auch mein WG-Kumpel hier in meiner neuen Bude in Dortmund. Aber das erzähle ich lieber ein anderes Mal.

Wir schrieben damals viel über Notebooks, Handys und so und so kam es dann auch, dass ich immer wieder mal zu einer großen Tech-Messe nach Las Vegas eingeladen wurde. Quasi sowas wie bei Papa damals, der immer nach Frankfurt zur Musikmesse gurkte – nur halt mit längerer Anreise und offensichtlich dem fettigeren Essen. Hier, ich zeig Dir mal ein Bild von mir aus Las Vegas. Oder nee – schau Dir lieber das hier an, da bin ich im Grand Canyon. Wir sind da echt mit einem Hubschrauber reingeflogen, das war wirklich krass:

Schräg, oder? Dein Sohn beim Champagner-Picknick im Crand Canyon

Kannst Du Dich noch an die Kassette von Truck Stop erinnern, die wir im Auto früher oft gehört haben? Da gab es dieses eine Lied „Amerika“. Da haben die von einem Jungen gesungen, der schon als kleines Kind wusste, dass er unbedingt mal nach Amerika muss. Erst war er zu klein, dann war er verliebt, fand einen Job usw. – und auf einmal musste er feststellen, dass er einfach zu alt war, um immer noch Amerika kennenzulernen. Ich dachte tatsächlich, dass das mein Schicksal ist.

Ist natürlich Quatsch – also alles daran. Schließlich kann man auch mit 80 noch beschließen, die Welt kennenzulernen. Lässt mich gerade wieder daran denken, dass es unfair ist, Dich nicht einmal 60 Jahre alt werden zu lassen. Aber dennoch glaubte ich irgendwie, dass dieser Song mein Amerika-Schicksal besingt. Und mittlerweile war ich sieben- oder achtmal dort. Meistens wirklich Las Vegas, aber ich war auch schon in Chicago und sogar in San Francisco. Es ist ein wundervolles Land – und es würde Dir das Herz zerreißen, wenn Du wüsstest, was da gerade los ist …

Okay, dann lass uns kurz zum unappetitlichen Teil kommen: Kennst Du diesen Immobilien-Milliardär Trump? Der wurde tatsächlich US-Präsident vor ein paar Jahren. Ein furchtbarer, böser, selbstverliebter und machtbesessener Mann. Er ist nicht die Ursache, aber ein Symptom eines kaputten Landes. Oder eher sogar einer kaputten Gesellschaft. Überall in der Welt gibt es wieder nationalistische Strömungen, leider auch in Deutschland. Ich nenne den Namen dieser Partei in Deutschland jetzt aber nicht, weil ich diesen Namen nicht in einem Text lesen möchte, in dem es eigentlich um Dich geht. Aber ganz ehrlich, Mama: Die Welt ist im Arsch gerade.

Wäre ich jetzt wieder ein wenig pathetisch und kitschig, würde ich sagen, dass sie ab der Sekunde schlechter geworden ist, als Du nicht mehr da warst. Aber doch, wir sind arg krisengeschüttelt. Russland hat die Ukraine angegriffen und führt dort einen furchtbaren Krieg. Im Nahen Osten ist der Konflikt auch wieder ausgebrochen und das in einem Maße, das niemand vorher für möglich gehalten hätte. Außerdem haben wir jahrelang in einer Pandemie gelebt. Da gab es ein Virus, das zuerst in China festgestellt wurde, und welches sich von dort aus in der ganzen Welt verbreitete. Viele Menschen sind gestorben, aber ganz ehrlich: Noch viel mehr Menschen sind in der Zeit offenbar verblödet.

Damit meine ich, dass Leute einfach die Wahrheit nicht mehr respektieren. Die glauben lieber an das, was ihnen besser in den Kram passt. Menschen sind gerade im Netz so unfassbar dumm und gehässig und missgünstig und verlogen und hämisch und böse und hämisch und egoistisch und unangenehm geworden, das kannst Du Dir nicht vorstellen. Blöderweise ist Dein anderer Sohn auch so einer geworden, irgendwie. Wenn man Dunning-Kruger-Effekt googelt, kommt vermutlich ein Foto seiner Visage. Ach so, Dunning-Kruger-Effekt bedeutet, dass es bei Leuten zu kognitiven Verzerrungen kommt. Je dümmer sie sind, desto mehr sind sie davon überzeugt, dass sie die Klügsten sind.

Aber lass uns nicht davon reden, denn das sind die Dinge, die mich eh täglich runterziehen und verrückt machen. Lass mich mal überlegen, ob mir nicht was Positiveres einfällt, was ich Dir erzählen könnte. Ach ja: ich hab seit Deinem Tod noch echt viele Depeche-Mode-Konzerte besucht! Erst dieses Jahr ging wieder eine Welttournee zu Ende. Die machen immer noch wirklich tolle und für mich wichtige Musik und durch die Band habe ich so viele wunderbare Freunde gefunden. Mit einem davon mache ich einen Podcast, in dem wir nix anderes machen, als über Depeche Mode zu labern. Stell es Dir vor wie eine Art Radiosendung, nur mit dem Unterschied, dass man die Sendung hören kann, wann immer man Bock drauf hat.

Aber von der Band ist auch einer gestorben – Andy, der Keyboarder. Du weißt schon, der, von dem ich das gemeinsame Foto habe. Was ist noch passiert, seit Du weg bist? Ach jau, gerade ist Fußball-Europameisterschaft in Deutschland und tatsächlich ist unsere Mannschaft 2014 sogar Weltmeister geworden! Weißt Du, was auch verrückt ist? Wir sind sogar amtierender Basketball-Weltmeister!

Und technisch hat sich auch viel getan. Wir haben zum Beispiel alle fliegende Autos und … haha, sorry, das war Quatsch und glatt gelogen 😀 Aber immerhin haben wir mittlerweile alle Kopfhörer, für die man keine Kabel mehr braucht, ich kann jederzeit alle möglichen TV-Serien und Filme glotzen, wann immer ich Bock drauf habe und das Gleiche gibt es auch für Musik. Bedeutet, ich laufe draußen mit Handy und Kopfhörer rum und kann jedes Lied hören, welches ich mir wünsche.

Weisst Du noch, wie ich damals Zeitungen ausgetragen habe? Da hatte ich auch immer den Walkman auf und konnte lediglich die eine Kassette hören, die ich reingepackt habe und musste hoffen, dass die Batterien durchhalten. Ach so, selbst unsere Handys können wir mittlerweile ohne Kabel laden und hey – es gibt einen riesigen Boom bei elektrischen Autos. Okay, es gibt den globalen Trend, aber in Deutschland wird er meistens kaputtgeredet, aber über Politik und die Gesellschaft unterhalten wir uns lieber ein anderes Mal.

… ja genau, Casi: „unterhalten“ … als ob ich mich hier unterhalten würde und nicht einfach nur mit mir selbst quatsche …

Aber ich möchte gerne mit Dir reden. Weil mir das fehlt .. Ich vermisse Deine Stimme, Dein unendlich großes Herz, Deine Neugier, Dein wirklich aufrichtiges Interesse und Dein Lachen. Ich möchte mit Dir zusammensitzen, ein Stück Kuchen mit Dir essen und dann erzähle ich Dir, was hier alles los war in den letzten Jahren. Ich erzähle Dir, dass tatsächlich Abba wieder neue Musik gemacht haben und dass ich aufgehört hab, Fleisch zu essen. Na ja, meistens jedenfalls. Wir haben damals echt übertrieben oft Bratwurst gegessen – Leuchte nannte unsere Wohnung damals daher den „Bratwurst-Himmel“ 😀 Ach ja, Leuchte ist mittlerweile auch verheiratet und hat ein Kind.

So viele Geschichten hätte ich noch für Dich. Zum Beispiel von Sandie, meiner lieben Freundin aus Österreich, die mich hier besucht hat vor einigen Monaten. Die mochtest Du doch auch so. Und nach über 30 Jahren hat sich plötzlich Angela wieder bei mir gemeldet., mein heimlicher Crush damals. Ich werde sie bald mal treffen, kann Dir aber schon nach ein paar Telefonaten und Sprachnachrichten (okay, die erkläre ich Dir auch ein anderes Mal ^^) sagen, dass Angela noch ganz genau so ist wie früher.

Ich hätte auch noch so viele Fragen an Dich. Und ich vermisse Deine Ratschläge. Du warst immer meine erste Anlaufstelle, egal ob ich mich ausheulen musste, oder eine Meinung brauchte. Ich würde mich auch heute wieder ausheulen wollen. Weil Papa und Dein Sohn so kacke geworden sind, dass ich seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen haben möchte. Da ist mir der Rest der Familie lieber, oder zumindest ein Teil davon … War neulich erst bei Franz und Björn zuhause, hab Kristin, Geli und Nele dort auch wiedergesehen. Und ob Du es glaubst oder nicht: Ich hab mir schon ein paar Mal schlimm einen mit Ilka trinken müssen. 😀 Aus meinem kleinen Cousinchen ist längst eine bildschöne, kluge und empathische Frau geworden – Du würdest sie lieben, ganz sicher. Und ihre Mama Karin hat mir nach Deinem Tod echt den Arsch gerettet, weil sie immer für mich da war.

Du hättest es verdient, dass wir heute noch zusammensitzen könnten und all das besprechen. Und dann würde ich vielleicht da sitzen und Dir nichts davon erzählen, was die Depression mit einem macht. Würde nicht davon erzählen, wie ich mit dem Gefühl lebe, nie genug zu sein. Würde Dir zwar von meinem finanziellen Desaster und meiner Insolvenz erzählen, aber ganz sicher nicht von meiner Einsamkeit hier. Auch nicht von meiner Angst, irgendwann einfach allein zu sterben. Und von meinem Gefühl, dass ich einfach nie wieder einen Menschen an meiner Seite haben werde.

Stattdessen würden wir vermutlich über den Kuchen vor uns reden. Du würdest mich lachend wieder daran erinnern, wie ich damals bei irgendeiner Familienfeier 14 Stück Kuchen und Torte inhaliert habe. Damals, also wohlgemerkt zu einer Zeit, in der ich noch wirklich dünn war. Es gab sogar ein Foto davon: Alle am Kuchentisch schauen freundlich in die Kamera. Nur einer nicht – ich verfressenes Schwein bin der einzige auf dem Foto, der sich energisch noch ein Stück Kuchen in den Mund schiebt 😀

Aber weißt Du was? All das wäre okay – also wenn wir über ganz normalen Scheiß quatschen würden, statt über die ernsten, schweren Themen. Ich könnte mit meinen Schwierigkeiten, meinen Problemen, meinen Sorgen, meinen Ängsten und meinen Unzulänglichkeiten ganz gut leben, wenn Du doch nur noch da wärst.

Ich lieb Dich und ich vermiss Dich so absurd, und immer noch denke ich jeden Tag an Dich. Du hättest es verdient, dass wir heute zusammen Deinen 75. Geburtstag feiern. Und ich finde, ich hätte es auch verdient.

Dein Sohn Casi

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