Rassistische Deutsche Bahn? Schlag den Star? Social Media ist kaputt
Wenn ich diese Seite hier öffne – also das Backend, in das ich diese Zeile hier gerade tippe – baut sie sich mit einem Quietschen und Knarzen auf und ich muss den Staub vom Editor pusten. So selten schreibe ich hier leider nur noch. Trotz Urlaub – der zweite von vier Tagen ist so gut wie beendet – geht es mir nicht gut, ich komme zu nichts, aber darüber spreche ich ein anderes Mal. Ganz bestimmt.
Heute will ich mich aber über Social Media auslassen. Wobei das zu kurz greift. Ich will eigentlich nicht über Social Media an sich reden, sondern darüber, wie unfähig wir uns im Netz bewegen. Erst am Samstag haben wir – Palle, Fabi und ich – in unserem Podcast Casa Casi über Medienkompetenz gesprochen.
Wir sprachen darüber, wie sehr es Facebook verkackt hat und dass wir glauben, ohne regulierende Politik ist da nichts mehr zu retten. Vor allem sprachen wir aber auch darüber, wie sehr wir alle selbst es doch in der Hand haben, wie wir uns äußern und damit den Ton setzen. Ich merke es doch selbst an mir: Werde ich verbal direkt zur „Begrüßung“ in einem Thread angegangen, habe ich wenig Bock, da sachlich zu antworten.
Kaum war die Podcast-Folge live, stolpere ich über gleich zwei Social-Media-Aufreger, die wirklich exemplarisch dafür stehen, wie kaputt Social Media geworden ist. Einmal ging es um die Deutsche Bahn und scheinbaren Rassismus, beim anderen ging es um Pocher und eine Backpfeife. Ich erwähnte eingangs, dass ich einfach zu nichts komme. Dieser Antriebslosigkeit verdanke ich es immerhin, dass ich dem zweiten Teil meines Artikels noch die Geschmacksrichtung „Will Smith“ hinzufügen kann.
Vorsicht an der Bahnsteigkante – Rassismus bei der Deutschen Bahn?
Aber steigen wir ein mit der Deutschen Bahn. Schaut Euch den verlinkten Tweet an bzw. das Video darin. Ich bin da übrigens in einer Zwickmühle. Ich möchte, dass Ihr Euch das Video anschaut, stoße mich gleichzeitig daran, dass das Persönlichkeitsrecht von gleich mehreren Menschen verletzt wird, weil sie nicht unkenntlich gemacht wurden. Für diejenigen, die es sich also lieber nicht anschauen wollen, schildere ich kurz, was man sieht:
Eine Zugbegleiterin steht in einer Bahn an der noch geöffneten Tür. Ein schwarzer Mann hat einen ausgedruckten Beleg in der Hand und diskutiert, möchte augenscheinlich den Zug betreten. Die hektisch wirkende Frau wiederholt mehrmals, dass man draußen zurückbleiben solle. Ein älterer weißer Herr ignoriert diese Aufforderung, steigt ein, die Zugbegleiterin lässt ihn vorbei. Dann schließen die Türen, sie telefoniert mit dem Lokführer, aus dem Off wird die Frage gestellt, wieso der eine Mann einsteigen durfte und der andere nicht.
Bevor Ihr Euch überlegt, was das gerade mit Euch macht und wie Ihr darüber denkt, sage ich Euch, wie ich mich gefühlt habe. Als jemand, der schon öfter am Gleis stand und erfolglos an Türen rüttelte und in der Folge mehrfach die DB verfluchte, war ich wütend. Wütend, weil es so augenscheinlich ein Leichtes ist ,die Leute reinzulassen, wenn man doch eh noch am Bahnsteig bei offenen Türen steht – und weil es so wirkt, als darf der verzweifelte Schwarze nicht einsteigen, der Weiße hingegen schon.
Schluss, Aus – fertig ist die Rassismus-Laube, nicht wahr? So liest es sich jedenfalls auf Twitter. Sehr viele sehr empörte Menschen beschimpfen die Frau als Rassistin, beschimpfen ebenso die Deutsche Bahn, fordern Stellungnahmen der Bahn und natürlich auch die mittlerweile fast schon obligatorische Entlassung der DB-Angestellten.
Ich habe mir angewöhnt, nicht mehr sofort meinem ersten Impuls zu folgen. Stattdessen lese ich mir immer ein paar weitere Kommentare zu, suche mir gegebenenfalls weiterführende Links. Kostet Zeit, ist klar – aber lässt mich am Ende des Tages ruhiger schlafen. Also wenn man das ruhig schlafen nennt, was ich da tue, wenn ich da nachts irgendwann mal in einen komatösen bis katatonischen Zustand verfalle.
Sehr schnell stolperte ich auf eine Reaktion eines Zugbegleiters, der ein wenig mehr Infos zu dem Prozedere am Bahnsteig beisteuern konnte. Da der Thread sehr lesenswert und reflektiert ist, bitte ich euch auch hier, ihn zu lesen:
Außerdem findet sich in den Kommentaren noch ein Verweis auf folgendes Video, welches ebenfalls sehr schön erklärt, was da tatsächlich abläuft zwischen „Zurückbleiben bitte“ und der tatsächlichen Abfahrt.
Meine Gedanken dazu: Erst einmal wissen wir Vieles nicht, was wir zwingend wissen sollten, bevor wir eine Person des Rassismus beschuldigen. Wir wissen nicht, was sich abgespielt hat, bevor das Video beginnt. Wir wissen nicht einmal, was der Mann überhaupt für einen Zettel in der Hand hält. Es könnte eine Fahrkarte sein, muss aber nicht. Vielleicht ist es eine ungültige Fahrkarte oder eine für einen ganz anderen Zug, vielleicht ist es auch nur ein Infozettel oder sonst was.
Da der Vorwurf mehrfach genannt wird, dass die Frau offensichtlich PoC nicht mehr reinlässt, Weiße aber schon: Vielleicht ist der Schwarze auch einfach nur höflich und der Opi ein Vollasozialer, der sich einen Scheiß darum schert, dass da jemand wiederholt „Zurückbleiben“ ruft. Apropos Vollasozialer: Käme ich da angehetzt, würde ich sogar vermutlich ebenfalls einfach versuchen, einzusteigen, wenn ich sehe, dass die Tür offen steht. Sollte ich fairnesshalber nicht ausschließen.
Dazu kommt, dass die Frau sich dessen sicher bewusst ist, dass sie da gerade gefilmt wird und das vermutlich eine Situation ist, die Zugbegleiter:innen häufiger widerfährt. Das trägt sicher nicht dazu bei, dass sie in einer Stresssituation deutlich ruhiger wird. Wir haben also einen Clip, der den Anschein erweckt, dass diese Frau rassistisch agiert. Durch die begleitende Beschriftung wird genau dieser Impuls ja auch getriggert.
Ob diese Frau vielleicht einfach doch eine Rassistin ist? Was weiß ich denn? Möglich! Aber wir wissen es nicht und das ist der entscheidende Punkt. Uns fehlen dafür einfach entscheidende Infos. Was wir jedoch wissen: Der Clip ist viral gegangen und unzählige Menschen konnten ihn sich anschauen, ohne dass sich da jemand auch nur einen Scheiß um Persönlichkeitsrechte der zu sehenden Menschen kümmert und welche Konsequenzen das für einen Menschen haben kann.
Macht das bitte nicht. Folgt nicht diesem ersten Impuls und denkt einfach eine Scheiß-Sekunde darüber nach, bevor Ihr „Rassismus“ ruft, oder zu virtuellen Hexenjagden und zu Kündigungen aufruft. Wir sind intelligenter als das. Okay, nicht alle, aber die meisten.
Schlag den Star: Dortmund- und Hollywood-Edition
Den „Schlag den Star“-Gag hab ich eigentlich Oli Hilbring geklaut. Muss er jetzt mit leben leider. Es geht natürlich um das Backpfeifen-Festival vom Wochenende. Los ging es mit Pocher. Der saß in Reihe Eins beim Boxkampf zwischen Felix Sturm und Istvan Szili. Vermutlich habt ihr eh alle mitbekommen, was passiert ist. Ein „Wannabe?“-Comedian namens „Fat Comedy“ rauscht auf Pocher zu, tafelt diesem amtlich eine – und noch bevor der neben Pocher sitzende Christoph Daum auch nur den Hauch einer Reaktion zeigt, fordert der übergriffige Kerl Oli Pocher dazu auf, sich dem Kampf zu stellen und sich bestenfalls noch ein ordentliches Pfund einzufangen.
Reaktion im Netz (nicht ausschließlich natürlich, aber sehr oft): „Hihi, der Pocher – geschieht ihm recht!“ Ich staune tatsächlich darüber, wie viele Pazifisten und friedliebende Menschen plötzlich so gar kein Problem mit körperlicher Gewalt haben. „Aber Pocher mobbt ständig Leute …“ – Ja, tut er! Ich hab auch nie behauptet, dass er nicht auch genau deswegen ein Vollarsch ist. Ich staune, dass er mit dem, was er macht, TV-Shows moderieren darf und Leute sich seinen Scheiß auch noch als Podcast reinziehen.
Dennoch hat man ihm nicht ins Maul zu hauen, Punkt! Es ist doch lange genug her, dass wir nicht mehr in Höhlen leben und auf die Mammutjagd gehen – da könnten wir doch solche Muster ruhig mal ablegen, oder? Es ist ein verfickter Übergriff. Eine fremde Person hat mich nicht einmal im Gesicht zu berühren, geschweige denn zu schlagen. Und ich finde es in höchstem Maße beunruhigend, dass die Ohrfeige verniedlichend so dargestellt wird, als gehört es zum guten Ton, jemandem eine zu verpassen, solange nur das Argument stimmt.
Was war denn das Argument? Ausgerechnet der wenig zimperliche Pocher hat sich im Podcast auf die Seite der Influencerin Nika Irani gestellt, die dem Rapper Samra vorwirft, sie vergewaltigt zu haben. Und wer ist ganz dick (pun intended!) mit Samra? Genau – „Fat Comedy“! Also zimmert er ohne Vorwarnung Pocher eine rein, um seinem Kumpel zu helfen. Super-Argument natürlich, so eine Backpfeife. Ebenso armselig wie die ganze Aktion: Sich vorher noch einen Kumpel klar machen, der kichernd den ganzen Vorfall filmt.
Was stimmt mit Leuten nicht, die das gutheißen? Kriegen wir diese Transferleistung im Hirn nicht mehr hin, dass auch ein Schwachkopf nicht verdient hat, dass man ihm ins Maul haut? Dass Selbstjustiz und artverwandte Attitüden immer, wirklich IMMER, eine Scheißidee sind? Ich staune, dass ich mich veranlasst fühle, das überhaupt noch erklären zu müssen. Aber die Idee, dass es nun mal Anlässe gibt, in denen Schläge legitim sind, ist gruselig weit verbreitet.
Peinlich wird es dann, wenn einem dafür, dass man diese Gewalt nicht gutheißt, alles Mögliche von Wokeness bis Gutmenschentum vorgeworfen wird. Will man sich moralisch über andere erheben? Nein, tendenziell nicht. Wer macht eigentlich die Regeln? Ab wann hat jemand wie Pocher eine ins Maul verdient? Wo verläuft da der Grat? Und ist der Zeitpunkt tatsächlich so goldrichtig, nachdem er sich auf die Seite eines potenziellen Vergewaltigungsopfer geschlagen hat? Können wir uns vielleicht zumindest darauf verständigen, dass diese Fragen überdacht werden sollten, bevor man sich darüber freut, dass es „den Richtigen“ trifft?
Nach der Pocher-Geschichte in Dortmund wiederholte sich das Ganze noch ein bisschen spektakulärer in Hollywood. Okay, die Backpfeife war an sich nicht spektakulärer. Der Unterschied war im Wesentlichen, dass das eine Mal zwei Deppen waren und ein dritter Depp das mit dem Handy filmte – und beim zweiten Mal waren es zwei Weltstars und der Spaß passierte live bei der Oscarverleihung vor den Augen von vielen Millionen Fernsehzuschauern.
Auch hier die Kurzzusammenfassung (Die Videos dazu gibt es eh an jeder Ecke, wenn ihr sie sehen wollt): Will Smith hat Chris Rock eine reingezimmert – kurz, nachdem dieser einen unappetitlichen Gag über Smiths Frau Jada gemacht hat und kurz, bevor Smith dann den Oscar verliehen bekam. Aktuell wird wohl beratschlagt, ob er seine Trophäe direkt wieder zurückgeben soll wegen dieses Vorfalls.
Hier übrigens das exakt gleiche Verhalten im Netz: Viel Gejohle, „die Sau hat’s verdient“-Rufe überall und eine testosterongeschwängerte Luft, während tapfere Machomänner erklären, dass sie für ihre Frau genau dasselbe getan hätten. Man bekommt ein Gespür dafür, wie viel Strecke wir noch zu machen haben bei der Gleichberechtigung, wenn Männer es immer noch als Heldentat betrachten, für ihre Frauen in die Schlacht zu ziehen und ihnen die Entscheidung abzunehmen, wie sie auf eine Beleidigung reagieren möchten.
Smiths Frau leidet unter krankheitsbedingtem Haarausfall. Darüber muss man keine Witze machen. Schon gar nicht, wenn man weiß, dass die ganze Branche anwesend ist, Freunde zuschauen und die ganze Welt das Geschehen mitverfolgt. Niemand sollte so bloßgestellt werden! Und trotzdem hat Will Smith keine Gewalt anzuwenden. Jemand macht einen bepissten und übergriffigen Gag? Dann gibt es Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Vielleicht verweigert die Academy Chris Rock, jemals wieder eine so wichtige Show live zu moderieren. Vielleicht spricht Will Smith das bei seiner Oscar-Rede an, oder bei einer der vielen anderen Gelegenheiten, zu denen ihm ein Mikro unter die Nase gehalten wird.
Aber in keinem Fall darf die Option sein, Chris Rock live im TV eine reinzukloppen. Will Smith ist ein Idol für Millionen Fans. Wollen wir wirklich, dass das Learning ist: Gewalt ist okay, solange der Grund okay ist? Und dann sind wir wieder bei den gleichen Fragen, die wir oben schon hatten: Wer entscheidet denn, ob der Gag gut oder mies war und wann es einen Grund für körperliche Gewalt gibt? Will Smith hat übrigens sehr schnell eingesehen, dass das eine Kack-Aktion war. Bin gespannt, ob diejenigen, die die Nummer johlend feiern, zu einer ähnlichen Einsicht kommen …
Und dann kommen echt Leute aus dem Gebüsch gekrochen mit merkwürdigen Putin- oder Nazivergleichen. „Du würdest auch lachen, wenn man Putin eine gescheuert hätte“ – nein, würde ich nicht. Alles um Putin empfinde ich derzeit als so verstörend und unappetitlich, dass meine Reaktion auf eine Backpfeife für Putin ganz sicher kein begeistertes „Haha“ wäre.
Nicht falsch verstehen: Ich wünsche Putin von ganzem Herzen alles Schlechte. Aber das ist eben nicht der Punkt und der Vergleich mindestens mal ein kolossal hinkender. Irgendjemand muss mir das eh mal erklären: Der eine bekommt eine reingehauen, weil er ein Vergewaltigungsopfer verteidigt, der andere, weil er einen schlechten Gag über eine kranke Frau gemacht hat. Findet irgendjemand wirklich, dass der direkte Vergleich dieser beiden Aktionen eine identische Reaktion zulässt?
Ich weiß, mir werden immer eine Menge Sachen vorgeworfen. Ich poste Dinge für meine Reichweite, oder weil ich mich moralisch über andere erheben möchte. Ich will einfach woke rüberkommen, ich verdammter Gutmensch. Es ist Bullshit! Aber genau da fängt die verzerrte Wahrnehmung ja schon an – indem man glaubt, dass 1. Gewalt ein probates Mittel ist und 2. „Gutmensch“ zum Schimpfwort taugt. Tatsächlich bin ich auch oft genug ein oberflächlicher Spacken. Ich mache politisch inkorrekte Witze – je weniger Öffentlichkeit ich habe, desto mehr. Ich schaue Frauen auf den Arsch, esse tote Tiere und manches Mal verherrliche ich Alkohol. Alles nix, um damit anzugeben, aber ich sage es, um zu unterstreichen, dass ich mich moralisch ganz sicher nicht überlegen fühle.
Jedenfalls hat das Wochenende wieder einmal sehr schön gezeigt, was für ein Arschloch-Ort das Internet sein kann. Zum Glück habe ich – auch in letzter Zeit wieder – so viel Positives im Netz gelesen und bin auf so viel angenehme Menschen gestoßen, dass ich haargenau weiß, dass Social Media nicht nur eine übelriechende, riesige Kloake ist. Aber in weiten Teilen ist diese Art der Kommunikation einfach am Arsch. Und das noch mindestens solange, bis Mark Zuckerberg auf Geld scheißt und gewaltverherrlichenden Dreck konsequent blockt.
Oder noch solange, bis die Politik Facebook, Twitter, TikTok usw. auf die Finger klopft. Okay, die dritte Option ist, dass wir – alle Mann und nicht nur ein paar „Gutmenschen“ – uns am Riemen reißen und im Netz angemessen, adäquat miteinander umgehen. Weniger beschimpfen, weniger polemisieren, weniger verallgemeinern – dafür mehr zuhören, mehr reflektieren, mehr Quellen checken.
Ich hab es Euch übrigens erspart, die „Dreadlocks“-FFF-Debatte hier auch noch unterzubringen. Denn auch dort zeigt sich wieder, wie unfähig wir augenscheinlich sind, uns vernünftig miteinander zu unterhalten und tatsächliche Argumente aufzugreifen. Aber der Scheiß hier ist eh schon wieder zu lang geworden und der ganzen Nummer um die kulturelle Aneignung wollte ich mich eh nochmal gesondert annehmen. Und damit ende ich ziemlich genau so, wie ich begonnen habe: Mit der Ankündigung eines Textes, den ich vermutlich so wie viele andere Texte auch in hundert Jahren noch nicht geschrieben habe.