Zur Lage der Nation: Deutschland am 3. Oktober 2024
So weit isses also gekommen: Ich recycle jetzt schon meine eigenen alten Headlines. Ja, die gleiche Überschrift – natürlich mit anderer Jahreszahl – wählte ich schon am Tag der Einheit 2022. Ich hab das gerade nochmal gelesen und finde, es hätte gereicht, den einfach noch einmal zu teilen. Dumme AfD-Bratzen, Ukraine-Krieg, Inflation, Grünen-Bashing, Klimawandel-Ignoranz – bis auf die neuerlichen Eskalationen in Nahost hat sich anscheinend nichts verändert.
Ist das nicht gruselig? Also dass wir genau über denselben Piss reden müssen, wir kein Problem gelöst bekommen haben und stattdessen mit der Israel-Palästina-Libanon-Iran-Nummer einfach nur noch ein Problem haben, das sein Comeback feierte? Ich finde schon. Und es macht mich fertig, dass die gesellschaftlichen Gräben sich weiter vertieft haben. So sehr vertieft, dass da inzwischen neben der AfD mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht noch eine zweite Partei reinpasst und sich zudem auch noch CDU/CSU und FDP anschicken, sich dort mit reinquetschen zu wollen.
Wenn ich möglicherweise obige Headline nächstes Jahr wieder zum Tag der Deutschen Einheit recycle, haben wir gerade einen neuen Kanzler gewählt. Und wenn nichts Ungewöhnliches passiert, könnte der allen Ernstes Fritze Merz heißen. Ich sehe gerade nicht, was das verhindern könnte und muss aber auch ganz ehrlich sagen: Noch einmal vier Jahre Scholz gehen leider auch nicht. Ich will ihn gar nicht sinnlos bashen. Aber es macht mich fertig, dass unsere Regierung aller Häme, allem Populismus und allem Hass zum Trotz durchaus viele Dinge verbessert und auf den Weg gebracht hat – und nicht in der Lage ist, das auch adäquat zu kommunizieren. Die Außendarstellung des Kanzlers ist meines Erachtens eine Katastrophe. Und dennoch ist er gegenüber Merz immer noch das kleinere Übel.
Aber mir machen andere Dinge zu schaffen, wenn ich auf 2025 schaue. Welche Mehrheiten erwarten uns da? In wie vielen Landtagen wird neben der AfD dann auch noch das BSW sitzen? Und halten die eh schon brüchigen Brandmauern? Ich hab ein flaues Gefühl im Magen, weil wir gerade an so einer Klippe stehen: Wir können die Populisten nicht mehr aus Regierungsverantwortung heraushalten. Den Anfang macht die Sahra-Gurkentruppe im Osten. Aber wollen wir wirklich unsere Hand dafür ins Feuer legen, dass der BSW nicht mit AfD zusammen ein Bundesland regieren wird? Oder die Union doch noch weiter auf die AfD zugeht?
Ich würde mir wünschen, dass es die Habecks und Wüsts und Günthers und Mesaroschs und Audretschs wären, die für die Geschicke des Landes verantwortlich sind. Stattdessen werden wir uns mit Merz herumärgern und mit Linnemann und mit Söder und mit Spahn und mit Lindner und mit Klöckner und das macht mich so wütend und so ohnmächtig.
Wisst ihr, ich schaue auf die USA derzeit und raffe einfach nicht, wie man so ein Arschloch wie Trump wählen kann. Wie man ernsthaft glauben kann, dass er als einziger US-Politiker die Wahrheit sagt und als einziger US-Politiker das Land auf Kurs bringen kann. Und dann dreht man den Kopf und schaut statt in die USA wieder auf Deutschland und muss erkennen, dass sich konservative Politiker:innen allen Ernstes genau an diesem Trump orientieren. Spahn denkt allen Ernstes, dass sich „in den politischen Inhalten Donald Trump und Kamala Harris gar nicht so sehr unterscheiden“.
Das macht mir Kopfschmerzen, weil das Problem mit diesem Populismus ja nicht nur ist, dass wir als Land stagnieren – sondern wir damit immer genau die stärken mit den ganz, ganz einfachen Lösungen. Das ist ja auch die Schwierigkeit mit den sozialen Medien: Die Grünen, Linken und die SPD wollen auch gern so stark auf TikTok sein wie die AfD. Aber es geht einfach nicht. Weil der wütende, knackig kurze Claim einfach viel leichter verfängt als ein TikTok von jemandem, der euch umständlich erklärt, dass das Richtige fürs Land und für die Gesellschaft und für den Planeten etwas ist, was möglicherweise lange dauert und viel Kraft und unser aller Geld kostet. Das ist die Crux: Leute, die so ehrlich zu den Leuten sind, sind chancenlos – im Gegensatz zu den Blendern …
Ich wollte eigentlich was Positives schreiben. Irgendwas, was vielleicht Aufbruchstimmung erzeugt und Hoffnung macht. Aber es ist so verdammt schwer … ich schaue so viel Dokus und Reportagen. Sehe klugen Leuten dabei zu, wie sie mir die Welt erklären. Sehe, wie gut dieses Deutschland ist und welche Chancen wir nach wie vor haben. Vor allem aber sehe ich auch, wie andere Länder mindestens ebenso struggeln wie wir. Wie kann die Ampel an etwas Schuld sein, was überall in der Welt passiert?
Dann wünsche ich mir, dass viel mehr Leute das sehen würden, was ich sehe. Die auch sehen, wie gut im Ausland über Deutschland gesprochen wird. Videos, die aber auch zeigen, wie Menschen in Indonesien in absoluter Armut leben – aber gleichzeitig ihr Leben so positiv sehen und so voller Freude und Wärme sind. Das sind Menschen, die so unendlich viel weniger haben als irgend so ein AfD-Hansel und sich trotzdem einfach nicht eine Sekunde beschweren. Ich wünsch mir aber auch, dass sich Leute Videos anzeigen von Menschen, die – vor dem verdammten 7. Oktober 2023 – Gaza als den wunderbaren Ort zeigen, der er war. Oder Leute, die uns das echte Teheran zeigen – eine wundervolle, bunte und lebendige Hauptstadt, die gar nichts zu tun hat mit den Bildern, die wir entweder in den Nachrichten sehen, oder die in unseren Köpfen existieren. Ja, da sind verblendete religiöse Schwachköpfe und gewaltbereite Fundamentalisten und Männer, die Frauen nicht annähernd die ihnen zustehenden Rechte zugestehen. Aber vor allem sind da ganz viele ganz normale friedliche Menschen, die auch einfach nur ihr Leben leben wollen – wie wir alle.
Ich merk schon, ich bekomme es heute nicht hin. Ich kann weder den Finger in die politische, gesellschaftliche Wunde eines Landes legen, noch irgendwas Festliches, Aufbauendes zum Tag der Deutschen Einheit beisteuern. Ich weiß lediglich eins gerade: Ich ertrage es nicht, wie Fakes und Populismus und Hetze und Häme den Diskurs bestimmen. Wie Politik-Clowns uns mit unsinnigen Migrationskrisen-Geschichten auf eine falsche Fährte führen. Wie andere Politik-Darsteller so tun, als wären Gendern, Bürgergeld-Beziehende und queere Menschen mit Regenbogen-Fahnen die tatsächlichen Schwierigkeiten in unserem Land.
Deswegen muss ich mir was überlegen, was wir alle tun können, um dem entgegenzuwirken. Ich fühle jedenfalls, dass ich was tun will, vielleicht tun muss. Vielleicht mehr bloggen. Vielleicht einen politischen, gesellschaftlichen Podcast oder eine ganze Seite dafür starten. Es gibt so viel richtige und wichtige Dinge zu erzählen und es gilt, so viel Bullshit aufzuräumen, der uns täglich erzählt wird. Ich denke da mal eine Weile drauf herum – sagt mir gern, wenn ihr eine Idee habt, was ich da am sinnvollsten machen soll.
Bis dahin lasse ich jetzt diesen 3. Oktober an mir vorbeiziehen, der irgendwie nicht so feierlich war, ehrlich gesagt. Ich hoffe, bei euch war es angenehmer und falls ihr heute etwas gesehen oder erlebt habt, was mir mehr Hoffnung macht, dass die Welt in einem Jahr eine bessere ist – lasst es mich bitte wissen!
Artikelbild von Brigitte Werner auf Pixabay