Politik und Gesellschaft

Zur Lage der Nation: Deutschland am 3. Oktober 2022

So, Stündchen noch, dann isser vorbei, der Tag der Deutschen Einheit 2023. Gab es wieder ein entsprechendes TV-Programm eigentlich? Also Festakt in den Öffentlich-Rechtlichen, Redebeiträge von Kanzler und/oder Bundespräsident, während auf den Privaten „Armes Deutschland“ und Bud-Spencer-Filme liefen? Ganz ehrlich, ich habe nichts mitbekommen und nochmal ganz ehrlich: Diese ganze „Jetzt sind es schon x Jahre Einheit und so läuft es zwischen Ost und West“-Reportagen kann ich mir schon seit Jahren nicht mehr geben.

Nicht falsch verstehen: Ich bin immer noch unendlich dankbar für die Einheit, auch 32 Jahre später noch. Aber ich muss nicht drüber reden, wo Ost und West stehen nach all der Zeit. Ich bin dankbar für meine Freunde aus dem Osten, die ich sonst nie kennen gelernt hätte. Dankbar dafür, dass ich meine Helden Depeche Mode seit 1993 auch auf Konzerten in Ostdeutschland live sehen durfte. Ich bin dankbar dafür, dass damals von mutigen Menschen im Osten so fest vor den „Eisernen Vorhang“ getreten wurde, dass damals friedlich für uns alle eine ganz neue Welt geschaffen wurde.

Gerade in Zeiten, in denen Putin einen neuen Kalten Krieg initiiert, darf man all das nicht vergessen und muss sich auf diese Dinge besinnen. Ich mag halt einfach nur diesen Festtags-Humbug nicht mitmachen. Das sage ich aber ohne böses Blut – soll sich jeder ruhig reinziehen, der Bock drauf hat.

Ich habe mir übrigens für die Headline einen top-seriösen Anstrich gegeben, findet Ihr nicht auch? Aber genau darum geht es auch in diesem Beitrag. Nachdem ich den ganzen Tag rumgepimmelt habe, komme ich jetzt zum späten Abend wieder ein bisschen auf Touren und fühle mich berufen, Worte an die Nation zu richten. Wer soll es sonst machen? Olaf Scholz etwa? Na also!

Ich mach natürlich Spaß. Weder braucht Ihr mich, um Euch was über die Einheit zu erzählen, noch muss uns irgendjemand was über die Einheit erzählen. Vielleicht sollten wir vielmehr über Einheit generell reden. Aktuell sind wir in vielerlei Hinsicht ziemlich am Arsch. Corona ist noch lange nicht vorbei (Grüße gehen raus an die Oktoberfest-People), der Krieg mitten in Europa ist nach wie vor eine unfassbare menschliche Katastrophe und ebenjener Krieg hat uns nochmal tiefer in den Krisenmodus gestoßen. Inflation, Energiekrise (oder besser Energiepreiskrise?) sind die Stichworte und über den Klimawandel und dessen Auswirkungen haben wir dann mit noch keiner einzigen Silbe gesprochen.

Zusammenfassen könnte man das mit: „Die Kacke ist ordentlich am dampfen!“ Da wäre also Einheit echt jetzt mal angesagt. Hier in Deutschland, in Europa, auf dem ganzen Planeten. Wir reden ja gerne über die gespaltene Gesellschaft. Ich zuletzt Ende Januar – ziemlich exakt einen Monat, bevor ein russischer Irrer ein friedliches Land in Europa in einen erbärmlichen Angriffskrieg stürzte. Da ich eh schon auf meinen eigenen Artikel verweise, ein kurzes Zitat aus dem Test. Ich schrieb dort:

Sollte es einen Knall geben und Corona wäre spurlos verschwunden, würden sich diese 15 Prozent nur kurz schütteln und dann ginge es weiter mit der nächsten Geschichte, bei der man entschlossen dagegen sein dürfte. Klima, Gender-Debatte, Geflüchtete – you name it.

Mit den „15 Prozent“ sind diejenigen gemeint, die einfach ein unangenehmer, stets vorhandener Teil unserer Gesellschaft sind, der niemals Ruhe gibt und immer pauschal dagegen sein möchte. 15 Prozent der Gesellschaft werden einfach immer auf die Barrikaden gehen, egal um welches Thema es geht. In meiner Aufzählung fehlte noch das Thema „Krieg“, aber nichtsdestotrotz kam es genau so, wie prophezeit: Corona ist noch nicht mal verschwunden, und dennoch wurde aus der Masse der Impfgegner eine Masse Neu-Pazifisten.

Diese bezeichnen unsere Regierenden als Kriegstreiber, nehmen gleichzeitig Putin in Schutz und finden, wir sollten einfach lieber verhandeln, statt Waffen zu liefern. Mag ich ehrlich gesagt gerade nicht drüber diskutieren, weil es unfassbarer Unsinn ist zu glauben, dass Putin derzeit zu fairen Bedingungen an Gesprächen interessiert wäre.

Mein Punkt ist ein anderer: Wir reden sehr viel über Probleme, die tatsächlich da sind. Wir reden aber gefühlt noch mehr über Probleme, die gar keine sind – oder zumindest keine sein sollten. Wir streiten über Layla und Winnetou und darüber, wie lange wir duschen dürfen. Die wirklichen Probleme sind aber die Inflation, der Krieg und wieder einmal am Ende einer Aufzählung: Der Klimawandel und all seine Folgen.

Ich finde, dass es da einer konzertierten Aktion bedarf. Wir alle zusammen. Wir müssen endlich mal alle zusammen an einem Strang ziehen. Okay, vermutlich ziehen wir alle am selben Strang – nur dummerweise nicht in die selbe Richtung. Und da sind wir wieder beim Thema Einheit. Wir müssen eine Einheit werden. Die Typen, die im Bundestag sitzen und über die Stoßrichtung entscheiden, die dieses Land einschlägt. Die Experten, die Wissenschaft und nicht zuletzt wir alle, also das Volk.

Gerade bei letzterem hakelt es derzeit. Da sind wieder die oben erwähnten 15 Prozent, die einfach herzlich gerne dagegen sind. Die Grünen machen alles verkehrt, die SPD und Lindners FDP sowieso, Habeck ist eine Pfeife und die Grünen sind Kriegstreiber. Die Ukraine soll den Krieg nicht unnötig in die Länge ziehen und Wagenknecht ist die Einzige, die noch die Wahrheit ausspricht. Was sagen diese Leute noch so? Ach ja, dass die Sanktionen nicht Russland schaden, sondern ausschließlich uns. Und dass die Ampel die Regierung an die Wand fährt und die Welt über Deutschland lacht.

Punkt Eins: Uns geht es nicht so schlecht, wie wir gerne tun

Kurz mal Real Talk speziell an diese 15 Prozent: Merkt Ihr eigentlich noch was? Habt Ihr mal Länder in Afrika oder Asien bereist, oder Euch zumindest mal eine bepisste Doku angeschaut? Kennt Ihr die gesellschaftlichen Verhältnisse in Südamerika? Oder habt Ihr Euch mal mit dem Riss beschäftigt, der selbst in den fortschrittlichen US of A quer durch die Gesellschaft geht?

Ja, wir stecken hier gerade in der Scheiße. Die Preise ziehen unfassbar an, nicht nur bei der Energie. Die Inflation trifft das Volk ebenso wie die Industrie. Aber das ist doch keine deutsche Veranstaltung! Das trifft doch viele andere europäische Staaten ebenso – auch die, die sich nicht in so eine unheilige Abhängigkeit zu Putins Energieressourcen begeben haben wie Deutschland. Das ist jedenfalls schon mal der erste wichtige Punkt: Nein, die Welt lacht nicht über Deutschland. Weil es uns viel besser geht als dem größten Teil des Restes der Welt – und weil die meisten anderen Länder selbst so tief im Schlamassel stecken, dass die ganz andere Sorgen haben, als über Deutschland zu lachen.

Punkt Zwei: Differenzieren, Leute!

Ich bin übrigens ebenfalls derzeit wenig glücklich über manches, was die Regierung derzeit tut. Die aktuell diskutierten 200 Milliarden Euro zum Stabilisieren oder Senken der Energiepreise sind mir derzeit noch zu schwammig und selbst Habeck hat mittlerweile erkannt, dass die Gasumlage keine Spitzenidee war. Aber – und das ist der zweite Punkt: Es gibt nicht nur schwarz und weiß! Die Grünen machen nicht alles falsch, nur weil eine Idee nicht die richtige war. Die Regierung ist nicht deswegen behämmert, nur weil der Kanzler sich von seinen Spin Doctors dumme Sachen wie „You’ll never walk alone“ oder „Doppel-Wumms“ aufschreiben lässt.

Wenn das Time Magazine Ministerin Baerbock als aufstrebenden Star feiert – wieso können wir in Deutschland dann nicht wenigstens auf den „Haha“-Emoji-Reflex verzichten, wann immer wir ihr Gesicht auf Facebook erblicken? Wieso können wir uns nicht über gestiegene Preise ärgern und dennoch anerkennen, was die Regierung unternimmt, um diese Steigerungen in den Griff zu bekommen? Oder noch entscheidender: Wieso sind viele Menschen in diesem Land nicht in der Lage zu erkennen, dass nicht eine Regierung in Deutschland Energie- und Inflationsprobleme ausgelöst hat, sondern ein Krieg im Osten Europas?

Ich hab es in anderen Artikeln und Postings immer wieder gesagt: Aus dieser ganzen Scheiße kommen wir nur gemeinsam wieder raus. Also müssen wir uns mal allesamt am Riemen reißen. Ihr dürft gerne auf die Straße gehen und Ihr dürft natürlich ebenso gerne auf all das hinweisen, was verkehrt läuft. Wenn mir das Wasser bis zum Hals steht, mache ich schließlich ja auch das Maul auf. Aber, und das ist mein letzter Punkt für heute:

Punkt Drei: Unterscheidet Fakten von Meinungen

Beispiel: Es macht doch keinen Sinn zu fordern, dass wir Nord Stream 2 aufmachen. Also jetzt mal komplett abgesehen von den Lecks nach den Sabotagen. Russland entscheidet, uns kein Gas mehr durch Nord Stream 1 zu schicken. Bedeutet, dass es eine funktionierende, offene Pipeline gibt, durch die Russland aus freiem Willen kein Gas mehr nach Deutschland schickt. Wie behämmert muss man sein zu glauben, dass es unsere Energiesituation entscheidend verbessert, wenn wir statt einer dann zwei Pipelines haben, durch die Russland kein Gas schickt?

Das ist nur eines von einer Million Beispielen, die man in dieser Situation bringen könnte und die belegen, dass es vielen Leuten nicht um die Fakten geht, sondern um die eigene Meinung. „Meine Meinung“, gerne am Ende eines Facebook-Postings gebracht, manifestiert es immer und immer wieder: Diesen Leuten ist die Hoheit über die eigene Meinung sehr wichtig. Deutlich wichtiger, als sich an Fakten zu halten.

Wir müssen hier auf ein Level, auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner kommen. Und dieser kleinste Nenner muss ein faktenbasierter sein. Wir müssen uns zum Beispiel darauf verständigen können, dass uns die hierzulande verfügbaren Medien ein klareres Bild der Welt liefern als die Medien, die dem durchschnittlichen Bürger in Russland zur Verfügung stehen. Der Mensch in Russland darf russische, auf Staatslinie gedrillte Medien konsumieren. Der Mensch in Deutschland konsumiert in der Regel deutsche Medien – und wenn er skeptisch ist und hinterfragt (Hinterfragen, das macht ihr doch so gerne, ihr 15 Prozent), dann tut er was? Dann liest er die Medien aus der Schweiz, aus England, aus den USA und ja, wenn er Bock hat, dann liest er auch die russischen, auf Staatslinie gedrillten Medien.

Fakt muss also sein, dass derjenige, der alle Medien konsumieren darf, sich ein anderes Bild der Welt verschaffen kann, als derjenige, der nur eine sehr überschaubare Auswahl genießt. Fakt ist, dass der Klimawandel da ist und wir jetzt schon spüren, was das für uns bedeutet. Fakt ist, dass niemand das Recht haben darf, bewaffnet in ein anderes Land einzumarschieren. Fakt ist, dass erneuerbare Energie die Zukunft ist und nicht etwa, weiter und weiter Rohstoffe aus dem Planeten zu entnehmen, auf dem wir gerne noch lange leben wollen.

Jeder darf also seine Meinung haben, aber wir sollten dringend zusehen, dass nicht jeder seine eigenen Fakten für sich in Anspruch nimmt. Und genau da sehe ich das fetteste Problem beim Thema „Einheit“: Es gibt Leute, die scheißen einfach auf Fakten! Ich kann echt gut damit leben, wenn es zu einem Problem verschiedene Lösungsansätze gibt und sich Leute streiten, welcher Ansatz der richtige ist. Aber ich kann nicht damit leben, wenn es klare Fakten gibt und sich Menschen diesen Fakten verschließen, weil es ihnen nicht um Fakten geht, sondern um ihre eigene Meinung.

… und nun?

Damit wir die Risse in der Gesellschaft gekittet bekommen, müssen wir uns schleunigst wieder angewöhnen, unsere eigene Meinung auch gelegentlich mal wieder zu revidieren. Wir müssen uns diese Meinung auf Basis von Fakten bilden und nicht etwa auf Basis der Meinung von anderen oder auf der Basis von Ideen, wie wir uns eine Lösung vorstellen könnten. Hin und wieder muss man diese Meinung nachschärfen, nämlich immer dann, wenn sich die Faktenlage geändert hat. Das ist ein ständiges „Work in Progress“ und das verlangt, dass wir beweglich im Kopf sind.

Es hilft uns also nichts, auf 1980 zu zeigen und davon zu erzählen, wie super damals alles war und dass wir genau das wieder so wollen. Wir haben hier über unsere Verhältnisse gelebt und das könnte bedeuten, dass wir nie wieder auf das Wohlstandsniveau kommen, an das wir uns über Jahrzehnte gewöhnt haben. Wir können hier das Wasser aufdrehen und 24 Stunden laufen lassen, wenn wir Bock haben. Aber es gibt Länder, in denen marschierst Du erst einmal viele Kilometer, bis Du an trinkbares Wasser kommst. Auch hier lassen sich wieder Millionen Beispiele finden, um zu belegen, dass wir über unsere Verhältnisse leben und gelebt haben.

Worauf ich hinaus will? Findet von mir aus die Grünen kacke, das interessiert mich nicht. Ihr könnt auch Habeck und Baerbock unsympathisch finden, wenn Ihr wollt. Aber ihr müsst auch anerkennen, was diese Personen leisten – im Schlechten ebenso wie im Guten. Einfach ein bisschen mehr Neutralität, das kann doch nicht so schwer sein. Wir müssen alle mal vom Gas gehen (im übertragenen Sinne diesmal) und mal wieder lernen, zuzuhören. Uns Häme und Populismus und Hass verkneifen. Das gilt echt für alle, nicht nur für irgendwelche AfD-Hansels.

Wir müssen uns eingestehen, dass Lösungen für ein besseres Leben für Alle manchmal bedeuten können, dass wir persönlich Einschnitte in unserem Leben verspüren. Wir müssen uns eingestehen, dass es uns deutlich besser geht als den meisten anderen Ländern. Wir müssen auch aufhören zu glauben, dass unsere Leben schlechter werden, wenn wir queeren Menschen die Gleichberechtigung vorenthalten. Wir müssen erkennen, dass wir alles essen dürfen, was wir wollen und uns deshalb Witze und dumme Sprüche zu veganen Lebensmitteln echt langsam mal verkneifen könnten. Und so weiter und so fort.

Das klingt nach einer Menge „müssen“. Aber im Grunde ist es doch Kinderkram. Wenn wir uns allesamt nur ein bisschen mehr bewegen und dabei vor allem auch im Kopf beweglicher werden, bekommen wir die aktuellen Krisen gemeistert. Kann sein, dass der Winter scheiße wird. Aber dann müssen wir auch wissen, wieso das so ist und nicht irgendwelchen Populisten nach dem Maul reden. Aber egal, wie kacke der Winter wird. Wenn wir als Gesellschaft eine Schippe zulegen, uns wieder mehr zuhören, unbequeme Wahrheiten akzeptieren, faktenbasiert agieren – dann überstehen wir nicht nur den Winter, sondern machen als Gesellschaft einen fetten Step nach vorne.

Ich möchte hier keine nationalistische Regierung wie in Italien, keinen Trump, keine „mein Land zuerst“-Scheiße. Wenn ihr vernünftig seid, dann wollt ihr all das auch nicht. Ich baue tatsächlich darauf, dass mehr und mehr Menschen das auch so sehen und erkennen, dass es für komplexe Probleme keine einfachen Lösungen gibt. Und Einheit – die ist nicht wichtig im nationalen Kontext. Wir müssen international über Landesgrenzen hinaus eine Einheit werden. Wenn in der Karibik oder in Asien Inseln oder Landstriche absaufen, dann ist das ebenso unser Problem wie die Katastrophe im Ahrtal. Wenn im Mittelmeer Menschen ertrinken oder in Afrika Menschen verhungern – dann ist das ebenso unser Problem wie der Rentner, der Flaschen sammeln gehen muss, oder Obdachlose, die in irgendwelchen Ecken unserer Fußgängerzonen vor sich hin vegetieren.

Wenn wir heute (Fuck, Mitternacht ist vorbei, der Tag der Deutschen Einheit war also gestern) also über Einheit reden, dann bitte in diesem globalen Kontext. Meine Fresse, wieder viel geschrieben, ohne mir klar darüber zu sein, ob das nicht zu wirr und unstrukturiert ist. Ich hoffe aber, dass die Idee und mein Anliegen klar geworden ist. Wir brauchen wieder mehr „zusammen“ statt „gegeneinander“, dann kann uns keine Krise ernsthaft was antun.

Artikelbild von Brigitte Werner auf Pixabay

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