Boycott Qatar 2022: Ihr habt mir die WM gestohlen (1)
Egal, ob man drauf hin fiebert, oder nichts damit zu tun haben will: Niemand in Deutschland kann diesem Thema derzeit entkommen. Und seit wenigen Tagen ist das lange Warten endlich vorbei Die Rede ist natürlich von Promi Big Brother, das gerade mit einer neuen Staffel gestartet ist. Okay, das ist offensichtlich Quatsch. Vielmehr geht es um die WM in Katar, über die ich mich in diesem Beitrag ja bereits ausgelassen habe. Ja, ich weiß, was ihr denkt: Jetzt ist doch nun wirklich alles gesagt zu dieser WM. Ja, mag sein – aber noch nicht von mir 😉
Mittlerweile gibt es wirklich sehr viel tolles Material zur WM, zur FIFA, zu Katar und allen Nebengeräuschen. Am Artikelende werde ich eine Liste anhängen mit Links zu einigen tollen Dokumentationen usw.
Erstmal will ich aber ein paar Dinge loswerden. Es ist gerade Sonntagabend, halb Neun, im Hintergrund läuft der Tatort. Ein Sonntagabend wie jeder andere quasi. Mit einem Unterschied: In der Tagesschau habe ich Bilder der WM in Katar gesehen. Ich glaube nicht, dass mir das jemals passiert ist, dass ich in der Tagesschau erstmals Szenen eines Eröffnungsspiels sehe. Weil ich sonst natürlich immer live dabei bin und so gut es geht jedes Spiel verfolge. Also wirklich jedes! Ich hätte mir Katar – Ecuador auch angeschaut, wenn es ein x-beliebiges Gruppenspiel in einem x-beliebigen anderen Land gewesen wäre.
Heute habe ich aber nicht eingeschaltet. Weil ich mich ja schon vor langer Zeit festgelegt habe, nicht zu schauen und das auch nach wie vor für richtig halte. Der Punkt, den ich aber hier machen möchte: Ich halte es für mich für richtig. Was ich nicht für richtig halte: Diese merkwürdige Art von Empörung darüber, dass es Menschen gibt, die sich das anschauen.
Ich schweife mal kurz ab: Ich versuche, weniger Fleisch zu essen. Ich bemühe mich, dass ich nicht jeden Tag Fleisch esse, probiere ganz neue Gerichte ebenso aus wie pflanzliche Ersatzprodukte. Viele Veganer:innen würden mir sagen, dass das nicht ausreicht. Andererseits gibt es viele Leute, die sich von diesem woken Scheiß bevormundet fühlen. Sie denken, dass wir dahin getrieben werden sollen, uns einen bestimmten Lebensstil anzueignen. Das ist natürlich Quatsch: Die Nachfrage ist da und die Nachfrage ist eine natürlich gewachsene. Irgendwo dazwischen befinde ich mich halt mit meinem halbherzigen „manchmal esse ich kein Fleisch“-Ansatz.
Aber ich fühle mich gut damit. Weil ich merke, dass es das Richtige ist, weniger Fleisch zu konsumieren. Und weil ich merke, dass es auch einen Impact hat, wenn ganz Viele sich mit kleineren Schritten in die richtige Richtung bewegen.
Und damit komme ich wieder zurück zur WM, weil ich da eine Parallele sehe und glaube, dass wir da ähnlich pragmatisch vorgehen sollten. Es gibt Menschen, die kein Spiel schauen dieses Jahr. Es gibt Menschen, die jedes Spiel schauen. Vermutlich gibt es auch Menschen, die schon so konsequent waren, 2018 in Russland nicht einzuschalten, obwohl sie sonst den Fußball lieben. Ich denke, dass wie beim Fleischverzicht entscheidend ist, was sich persönlich für jeden von uns richtig anfühlt.
Ich schaue wie gesagt keine Minute. Manche Freunde schauen „nur die deutschen und die wichtigen Spiele“. Kann ich super mit leben. Grüße gehen übrigens raus an dieser Stelle raus an Guido – ich hoffe inständig, dass Dich Traicy die WM schauen lässt 😉 Mein erster Artikel zur WM hat sie nämlich in der Meinung bestärkt, dass man rigoros jede Minute boykottieren sollte. Aber wie gesagt: Jeder sollte das für sich entscheiden dürfen. Deswegen nervt es mich gerade so, dass derzeit die Frage „Und? Schaust Du?“ zu so einer Art Wertekompass-Check hochstilisiert wird.
Daher bitte ich euch, dass ihr euch Gedanken macht zu dieser besonderen WM, unabhängig davon, ob ihr die Spiele schaut oder nicht. Aber stellt niemanden dafür an den Pranger, dass er sich die WM reinzieht. Wenn ich schon dabei bin, Leute zu grüßen: Shout out an Falk! Ich wollte eigentlich auch einen Totenkopf-WM-Pokal als Artikelbild nehmen, habe ich mich aber offensichtlich dagegen entschieden. Vorher habe ich aber eine KI solche Totenschädel-WM-Trophäen basteln lassen und war wenig begeistert von den Ergebnissen ^^
Begeisterter bin ich hingegen von dem Bild, das Falk gepostet hat. Noch etwas begeisterter zudem von den Worten, die er begleitend findet. Er schreibt:
Boykott ist ein starkes Wort. Ich habe lediglich für mich entschieden, eine TV Sendung nicht zu gucken. Vor einiger Zeit schon. Ich bin dadurch kein besserer Mensch und habe kein Problem damit, wenn sich andere Leute anders entscheiden.
Konsequenter Boykott würde bedeuten, auch einen Blick auf die Sponsoren zu haben, von Coca Cola und VISA über McDonald’s bis Adidas und einigen anderen … Budweiser wird ja durch Katar schon selbst boykottiert. ^^ Das ist eine persönliche Entscheidung. Ganz leicht fällt es mir nicht, denn ich liebe Fußball und insbesondere solche Turniere. Normalerweise schaue ich fast jedes Spiel. Die dreckige FIFA hat alles dafür getan, dass ich die Lust auf dieses Turnier verloren habe und zum ersten Mal seit 1982 eine Fußball-WM auslasse.
Deutschland, hoch zu Ross
Ich fürchte, ich muss mich der Aussage vieler anderer anschließen, die zu Recht erklären, dass das Kind längst in den Brunnen gefallen ist. Es ist richtig, Zeichen zu setzen bei der WM. Richtig, auf die Probleme in Katar hinzuweisen. Noch richtiger und wichtiger, auf die Probleme innerhalb der FIFA hinzuweisen, die uns all das eingebrockt hat. Aber wir kleinen Lichter, die wir einfach nur Fußball-Fans sind, haben nur den winzigsten Hebel in diesen Tagen. Unsere Chancen wären da deutlich größer gewesen, hätten wir uns 2010 bemüht, als der Irrsinn beschlossen wurde.
Haben wir nicht getan. Ich bin sicher, dass ich – im Freundeskreis und auch im Internet – meine Meinung dazu kundgetan habe, als verkündet wurde, dass Russland und Katar die nächsten Weltmeisterschaften ausrichten werden. Zumindest war mir persönlich spätestens ab 2013 klar, dass da was komplett aus dem Ruder läuft. Trotzdem ist nichts passiert. Ich hab nichts gemacht, wir alle haben nichts gemacht und die Verbände, Clubs und Profis haben auch nichts gemacht – zumindest nicht viel. Okay, Bayern hat was gemacht, die haben sich nämlich in der Zwischenzeit Qatar Airways und damit ein staatliches Unternehmen als Trikotsponsor angelacht.
Wichtig ist, dass wir jetzt aber dafür sensibilisiert sind, was da verkehrt gelaufen ist. Die WM 2ß26 findet in den USA und Mexiko statt. Aber 2030, wenn voraussichtlich u.a. Saudi-Arabien mit in der Verlosung ist, sollten wir bei klarem Kopf sein, von der ersten Minute an. 2024 will die FIFA verkünden, wo die WM stattfinden wird und bis dahin haben wir alle Zeit, mit dafür zu sorgen, dass die FIFA einen transparenten Weg findet, den kompletten Prozess öffentlich nachvollziehbar zu machen.
Nichtsdestotrotz ist es natürlich richtig, auch aktuell Zeichen zu setzen. Ja, ich weiß: Lediglich 5.000 Haushalte in Deutschland sorgen für die gemessene Einschaltquote im TV. Dennoch lohnt sich der Boykott. Weil wir darüber reden. Weil weniger WM-Feeling dafür sorgt, dass weniger der Sport und mehr die wichtigen Themen rund um Katar und die FIFA im Fokus stehen. Weil weniger WM-Feeling aber vor allem dafür sorgt, dass weniger Trikots verkauft werden und generell weniger Geld mit der WM verdient werden kann. Fragt mal nach bei Anheuser-Busch – die haben 75 Millionen Euro dafür gelackt, dass sie in den Stadien Budweiser verkaufen dürfen, dass Bandenwerbung gezeigt wird und dass sie auch bei den Fan-Festen die Anhänger:innen der Mannschaften mit Alkohol versorgen. Jetzt gibt es nur alkoholfreies Bier im und um die Stadien und keine Werbung auf den Banden. Geht mal davon aus, dass andere Unternehmen ähnlich skeptisch werden dürften, wenn sie feststellen, dass die WM irgendwie nicht mehr dieser monetäre Selbstläufer ist, der sie mal war.
Wieso hatte ich nochmal die Zwischen-Headline mit dem Ross gewählt? Ach ja, weil die deutsche Weste vielleicht gar nicht so blütenrein ist, wie man glauben sollte. Wir haben auch einiges an Scheiße gebaut, bauen sie noch immer und zumindest im Kern kann ich auch die Vorwürfe Katars nachvollziehen, wenn sie von Double Standards sprechen.
Nehmen wir die Rechte von Wanderarbeitern. Ich brösle die Situation in Katar jetzt nicht nochmal auf, ihr wisst darüber alle bescheid und habt ja die Links weiter unten, wenn ihr euch informieren wollt. Katar hat natürlich die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen nicht unterschrieben. Wer sie außerdem nicht unterschrieben hat? Genau, Deutschland. In der langen Reihe an Skandalen, die es um Fleischproduzent Tönnies gibt, findet sich beispielsweise auch diese Thema wieder. Auch in Deutschland ist es mitunter nämlich nicht feierlich, wie mit Arbeitsmigrant:innen umgesprungen wird.
Ob das ein ganz anderes Level ist als das, was in Katar passiert? Logisch. Es geht hier auch nicht darum, in irgendeiner Weise Katar zu verteidigen oder gar die Verstöße gegen Menschenrechte und den ganzen Rattenschwanz, der da dran hängt. Aber trotzdem: Katar ist nicht das schlimmste Land der Welt. Wissen auch die Jungs und Mädels von Katapult:
Katar entwickelt sich, das kann man zumindest anerkennen. Und Kritik daran, dass es dort zu viel Sand und zu wenig Bier gibt? Come on, ernsthaft? Das können wir besser. Fakt ist, dass Menschenrechte nicht verhandelbar sind und auch nicht irgendwas mit Werten zu tun habe, die man als Gast anerkennen müsse. Fakt ist aber auch, dass es genug andere Länder gibt, in denen es ähnlich scheiße aussieht – oder noch beschissener. Keine Angst, das soll kein billiger Whataboutism sein. Eher eine Rechtfertigung dafür, dass man nicht gleichzeitig jeden Ort in der Welt besser machen kann und aktuell eben logischerweise der Fokus auf Katar liegt. Damit müssen die Kataris nun mal klar kommen und sich meiner Meinung nach auch bewegen.
Das ist die Ambiguität, mit der wir klarkommen müssen. In Katar passiert eine Menge Scheiße, in anderen Ländern auch. Jetzt können wir Zeichen setzen, die jedoch keinen Impact auf die aktuelle WM haben. Aber die Chance auf wirkliche Veränderung und großen Impact haben wir leider verkackt. Daher sollte man durchaus drauf hoffen, dass die Spieler vor Ort irgendwelche Zeichen setzen, aber man sollte es nicht verlangen. Ich finde es ehrlich gesagt legitim, dass ein Land, dass in Sachen Menschenrechten hinter unseren Standards herhinkt, für sich in Anspruch nimmt, mehr Zeit zu benötigen. Aber das wussten wir eben auch vorher, dass man eine absolute Monarchie nicht in fünf Jahren umkrempelt, liegt auf der Hand. Wir dürfen also Katar definitiv für die Menschenrechtsverfehlungen, die Arbeitsbedingungen und die Unterdrückung von Frauen anzählen – der wahre Schuldige für diese WM bleibt dennoch die Sippe,, die das Turnier dorthin vergeben hat. Fuck you, FIFA!
Worauf will der Autor dieser Zeilen also hinaus mit seinem Pamphlet? Dass wir alle ein bisschen vom Gas gehen. Bitte keine absolutistische Forderungen mehr an die Spieler in Katar, kein Pranger mehr für WM-Fans und stattdessen voll konzentriert in die Zukunft schauen auf die Dinge, die wir tatsächlich ändern können. Wie ihr übrigens festgestellt haben dürftet, hab ich am Sonntagabend angefangen zu schreiben und den Mist jetzt erst am Montagabend fertiggestellt.
Und da ich nie so richtig auf den Punkt komme und der Text jetzt schon so ellenlang ist, werde ich den Rest im zweiten Teil unterbringen. Weil ich noch ein paar Gedanken loswerden möchte und weil sich heute schließlich auch noch so einiges ereignet hat, das ich nicht unkommentiert lassen möchte. Jetzt muss der fette Drees erstmal latschen gehen. Später in der Nacht setze ich mich aber dann an Teil 2, versprochen!
Ihr wollt Euch über die FIFA, Katar und die WM-Vergabe informieren? Gerne:
Hier folgen jetzt ein paar Video-Links bzw. Verweise auf die Mediatheken. Es gibt sowohl von den Öffentlich-Rechtlichen als auch von YouTubern viele spannende Inhalte, die Ihr Euch reinziehen solltet.
Los geht es mit den vier Teilen der WDR-Reportage „WM der Schande“:
Auch die anderen drei Folgen gibt es auf YouTube und zwar hier (Folge 2), hier (Folge 3) und hier (Folge 4). Alternativ könnt ihr das auch in der Mediathek schauen.
Dort findet ihr auch die spannende Reportage mit Thomas Hitzlsperger, die auf den etwas dramatischen Namen „Katar – warum nur?“ hört.
Gleich zwei Videos mit Erklärungen, wieso er sich die WM nicht anschaut, hat MrWissen2go auf YouTube hochgeladen. Ebenfalls sehr sehenswert.
Zwischendurch hau ich mal einen Podcast-Link raus. Ausverkauft ist ein Fußball-Podcast von Spiegel und Spotify und dort geht es nicht nur um die WM und Katar, sondern auch darum, wie der Vereinsfußball systematisch kaputtgemacht wird – unter anderem mit unanständig viel Kohle aus Katar. Kommt mit vielen O-Tönen, u.a. von Kloppo und dem Whistleblower Rui Pinto, der für die „Football Leaks“ verantwortlich zeichnet.
Dazu passt thematisch auch noch folgendes Video sehr schön – „Wie Katar den Fußball kauft“
Sport-Inside-Reportage: „Hinter den Fassaden der schönen Stadien“ beschäftigt sich mit den Wanderarbeitern und dem Martyrium, dem sie beim Stadionbau ausgeliefert sind.
Könnt Ihr noch? Dann geht es weiter: Immer sehenswert und auch bei diesem Thema sehr differenziert: Gert Scobel!
Bei ZDF heute live wird diskutiert: Soll man die WM nun boykottieren oder nicht? Sehr interessante Runde mit Alena Buyx vom Deutschen Ethikrat, Felix Casalino vom größten deutschen Fußball-YouTube-Kanal Freekickerz und mit Dario Minden vom Bündnis „Unsere Kurve“.
Sowas wie einen Blick von Innen auf Katar verspricht diese Arte-Doku: „Katar – Gas und Spiele“
Ich hab jetzt nicht alles aufgezählt, was die Mediatheken hergeben. Schaut gegebenenfalls gerne selbst in der ARD- oder ZDF-Mediathek vorbei, denn dort gibt es richtig viel Material zum Thema.
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