Ein, zwei Euro
Gerade komme ich wieder nach Hause von meiner allabendlichen Runde. Ich muss mich erst einmal wieder daran gewöhnen, tatsächlich strukturierte Tage zu haben, daher fällt es mir gar nicht immer leicht, jeden Tag meine Schritte zu absolvieren. Meistens überwinde ich den inneren Schweinehund, manchmal aber bin ich schwächer. So kommt es, dass ich — Stand jetzt — etwa bei 11.500 Schritten täglich stehe, obwohl ich 13.000 Schritte angepeilt habe.
Aber meine „Lanz“-Nachtschichten gehen heute Nacht für diesen Monat zu Ende und ich zähle stark auf die Wochenenden, an denen ich dann ein paar Extrameter absolvieren kann — dann wird das schon funktionieren. Jetzt bin ich jedenfalls wieder zurück, nachdem ich auf dem Rückweg durch die menschenleere Fußgängerzone marschierte.
Ich habe heute mal drauf geachtet, wie viele Obdachlose sich in den Eingängen der Geschäfte niedergelassen haben, an denen ich vorbeigegangen bin. Es müssen etwa 25 gewesen sein, als ich aufgehört habe. 25 Menschen allein in dieser einen Fußgängerzone und ich habe nicht mal mehr weitergezählt. Ich weiß gar nicht genau, wann sich das so entwickelt hat. In der Großstadt gab es irgendwie immer Obdachlose, so lange ich denken kann. Komplett verständnislos habe ich immer in die USA geschaut, in denen die Lage diesbezüglich manchmal unfassbar schrecklich ist. Dabei dachte ich aber immer, dass man das damit erklären kann, dass es dort dieses soziale Netz nicht gibt, welches wir hier genießen.
Das kann es aber eben nicht sein — also nicht nur — denn immer zahlreicher werden die selbstgebauten Unterkünfte, die allabendlich wie aus dem Nichts auftauchen. „Aus dem Nichts auftauchen“ ist auch der Gedanke, der mir bei der gemutmaßt recht jungen Frau kommt, die plötzlich vor mir steht. Wenn ich latsche, nehme ich natürlich wahr, was um mich herum geschieht, aber gerade in so Momenten wie eben, wenn man durch eine vermeintlich leere, nächtliche Fußgängerzone stiefelt, ist man auch schon mal in einem regelrechten Tunnel und abwesend. So kommt es also, dass ich kurz zusammenschrecke, als sie da so plötzlich vor mir steht.
Ich schätze sie auf Anfang bis Mitte Dreißig und zumindest mal die letzten Jahre scheinen nicht wirklich gut zu ihr gewesen zu sein. Es ist ein verlebtes, sorgenvolles Gesicht. Sie lächelt freundlich, als sie mich anspricht, aber man sieht, dass ihr nicht zum Lächeln zumute ist und logischerweise werfe ich ihr das nicht vor. Ich nehme meinen Kopfhörer ab — dadurch, dass man oft des abends angesprochen wird, sind die Handgriffe fast schon routiniert: Spotify über den Button am Kopfhörer pausieren, Kopfhörer abnehmen, dann auf dem Smartphone schnell noch den Tracker pausieren.
Manchmal erkläre ich sogar kurz, was ich da mache, weil ich mich blöd fühle, dass man mich was fragt, ich es wegen der Kopfhörer nicht verstanden habe und dann erst seelenruhig meine Geräte checke, bevor ich nachfrage, was der Mensch von mir möchte. Eigentlich ist es ja auch nicht so, dass ich nicht weiß, was die Person möchte, aber es ist doch höflicher, dem Menschen zuzuhören, statt abzuwinken oder ihm ins Wort zu fallen, oder?
Sie fragt mich, ob ich vielleicht ein, zwei Euro hätte und erklärt mir ihre Situation in wenigen Sätzen und wie verzweifelt sie ist. Ich schaue in mein Portemonnaie und sehe gähnende Leere. Das passiert mir in Pandemie-Zeiten immer häufiger, weil ich einfach so gut wie nie Bargeld benötige. Ich habe mir angewöhnt, möglichst immer mit dem Smartphone zu bezahlen, aber hin und wieder habe ich dennoch einen Euro dabei, falls man ihn mal für einen Einkaufswagen benötigt.
Ich sage ihr, dass es mir leid tut und ich komme mir vor, als lüge ich sie an. Sie tut mir wirklich leid und ich wünschte, ich hätte ihr ein wenig helfen können. Ich würde ihr gerne sagen, dass ich ihre Situation nachvollziehen kann, weil ich noch vor gar nicht so langer Zeit sehr genau überlegt habe, was ich mit diesen ein, zwei Euro zu machen habe. Aber ich fühle mich mies, weil ich mir denke, dass sie mich für unehrlich hält. Dass sie denkt, ich mag ihr einfach nichts geben.
Manchmal ist es sogar so, dass man mehrfach angesprochen wird und ich einer Person sagen muss, dass ich kein Kleingeld mehr habe, weil ich eben schon angesprochen wurde. Auch da befürchte ich dann, dass man mir das nicht wirklich abnimmt. Manchmal, muss ich zugeben, gehe ich sogar tatsächlich mit einem „tut mir leid“ auf den Lippen einfach weiter, wenn ich weiß, dass ich kein Geld dabei habe. Das fühlt sich nicht gut an, tut es nie. Aber ich bin kein reicher Mann und kann nicht jeden Abend 5-10 Euro an Bedürftige abgeben leider. Die Frau bedankt sich übrigens dennoch bei mir: „Immerhin hast Du nachgeguckt, die meisten halten ja nicht mal an“.
Mir tut das weh und ich fühle mich schlecht. Ich habe mich vor ein, zwei Monaten bei dem Gedanken ertappt, dass ich denen einfach zurufen wollte, dass es mir selbst Scheiße geht und ich gar nicht weiß, ob ich nicht selbst auf der Straße lande. Ich nehme denen das fast übel, obwohl mir niemand tatsächlich Geiz oder ähnliches vorwirft.
Mir kann man nicht helfen, was diese Gedanken angeht. Die trägt man mit sich herum und nichtsdestotrotz sitze ich hier in der warmen Bude und kann kluge Reden schwingen. Aber denen da draußen sollte geholfen werden und ich halte es für eine Katastrophe, dass all das in einem der reichsten Länder der Welt mit einem der besten sozialen Netze fast schon selbstverständlich geworden ist.