Song der Woche [2]: Marillion – Kayleigh
Habt ihr schon mal in ein Buch oder ein Magazin geschaut und euch vorgestellt, wie das damals für euch ausgesehen haben muss, als ihr noch nicht lesen konntet? Alles, was ich als Kleinkind damals Mitte der Siebziger „gelesen“ habe, war die Hörzu — unsere Fernsehzeitschrift, die uns allwöchentlich ins Haus flatterte. Natürlich schaute ich mir da eigentlich nur die Bilder an und meine Lieblingssendungen konnte man ja immerhin auch am Foto erkennen. Außerdem erkannte man auch die Fußballübertragungen super — nicht nur am Foto, sondern auch am Rahmen um den Beitrag, der aus Fußbällen bestand. Aber die Texte daneben waren damals wohl eher kryptische Mysterien, die ich als Drei- oder Vierjähriger nicht zu entschlüsseln wusste.
Wenn ich also heute auf eine Zeitschrift und auf geschriebene Wörter blicke, fehlt mir leider die Fantasie mir vorzustellen, wie das damals auf mich gewirkt haben muss, als ich das Alphabet noch nicht beherrschte. Ziemlich ähnlich geht es mir da mit Liedern, die ich irgendwann mal scheiße bis belanglos fand und die dann plötzlich bei mir zündeten. Das absolute Paradebeispiel dafür ist bei mir der Song „Kayleigh“ von Marillion. Der erschien 1985 und ich rätsle gerade noch, ob das ein Zufall ist, dass ich diese „Song der Woche“-Rubrik mit zwei Liedern aus diesem Jahr beginne.
Die Jahre 1985 und 1986 sind vielleicht tatsächlich die wichtigsten und prägendsten musikalischen Jahre meines Lebens gewesen, daher werde ich hier sicher noch häufiger über Lieder aus dieser Ära sprechen. Wirklich zufällig ist es auf jeden Fall, dass beide Songs im Frühling 1985 in den Berliner Hansa-Studios aufgenommen wurden. Wer weiß — vielleicht sind sich beide Bands ja sogar über den Weg gelaufen und haben sich zusammen betrunken — You’ll never know! Während sich Depeche Mode zum Videodreh aber wieder in ihr Heimatland begaben, blieben Marillion in Deutschland und drehten auch den Clip zu „Kayleigh“ in der deutschen Hauptstadt, die zum damaligen Zeitpunkt aber noch nicht wieder unsere Hauptstadt war.
Marillion waren damals wohl eher Insidern der Neo-Prog-Rock-Szene ein Begriff und konnten nicht ahnen, dass sie mit diesem Song plötzlich einen Welthit landen und zu einer der angesagtesten britischen Bands würden. Vielleicht wäre es auch gar nicht zu diesem Hit und der daraus resultierenden Karriere gekommen, wenn Gitarrist Steve Rothery seiner damaligen Freundin nicht die Gitarren-Hookline vorgespielt hätte, um ihr zu demonstrieren, wie man Melodie und Rhythmus in einem Gitarrenpart kombinieren kann.
Kay Lee
Sänger Fish schrieb diesen Song damals als eine Art Entschuldigung an die Frauen, die er zuvor gedatet hat. Es wurde ihm da erst nachträglich klar, dass er damals nicht fähig war, wirklich eine funktionierende Beziehung zu führen und das alles verarbeitete er in seinem Text als Entschuldigung an drei, vier Frauen aus seinem Leben. Die erwähnte „Kayleigh“ gab es tatsächlich, wenngleich sie in Wirklichkeit „Kay Lee“ hieß. Marillion feierten gerade ihre ersten internationalen Erfolge und als die Band aus Amerika zurückkehrte nach England, war Fishs Bude leergeräumt bis auf den Plattenspieler. Kay Lee hatte ihn verlassen und Fish schrieb diesen Song.
Es dauerte Jahre, bis sie sich danach wiedersahen und irgendwann sogar wieder gute Freunde wurden. In einem Interview erzählte der Sänger, dass er ihr bei einem Treffen die CD „Misplaced Childhood“ [Partner-Link] schenkte, auf der dieses Stück enthalten war, welches er zu ihren Ehren geschrieben hatte. Sie hatte tatsächlich das Lied nie gehört und auch keine Idee, wie er seinerzeit unter der Trennung gelitten hatte. Sie sagte ihm, dass sie das Album auf der Heimfahrt von diesem Treffen die ganze Zeit hörte und ununterbrochen weinen musste, weil sie sich seiner damaligen Gefühle einfach nicht bewusst war. Vor acht Jahren starb Kay Lee an Krebs.
Übrigens: Die Liebe schreibt manchmal verrückte Geschichten und so kam es, dass Tamara Nowy, die deutsche Frau, die im Musikvideo zu „Kayleigh“ mitspielte, später Fishs erste Ehefrau werden sollte, mit der er bis 2001 liiert war.
Camping in Bayern
Eingangs erzählte ich ja, dass „Kayleigh“ ein Paradebeispiel für einen Song ist, den ich anfangs irgendwie gar nicht mochte. Ich schaute jede Woche „Formel Eins“ und in dieser Charts-Show gab es immer die deutschen, englischen und US-amerikanischen Top Ten im Schnelldurchlauf. Wochenlang sah ich da immer ein paar Sekunden dieses Songs, wenn die englischen Charts an der Reihe waren. Ich verstand es einfach nicht, was die da auf der Insel an diesem schrecklich spröden Lied fanden. Ja, ich grübelte tatsächlich, wie nur irgendjemand diese Nummer so sehr mögen konnte, dass er in den Laden rennt und die Single kauft.
Augenscheinlich mussten das aber viele Briten getan haben, denn der Song schaffte es bis auf Platz Zwei in den englischen Charts. Später schaffte es „Kayleigh“ auch in die deutschen Charts, immerhin bis auf Platz Sieben. Irgendwann dann machte es plötzlich „Klick“ bei mir und mein Gefühl kehrte sich komplett um. Ab dieser Sekunde — und das hält bis heute an — konnte ich nicht mehr im Ansatz nachvollziehen, wie ich dieses Meisterwerk jemals nicht gut finden konnte.
Wir machten in dem Jahr mit der ganzen Familie Camping-Urlaub in Bayern, am Bannwaldsee in der Nähe von Füssen. Das Wimbledon-Finale, welches erstmals ein Deutscher gewann, der zudem nicht viel älter war als ich, lag gerade hinter uns, Live Aid lag direkt vor uns. Während ich mir den Triumph des Boris Becker live im TV anschauen konnte, verpasste ich durch diesen Urlaub das „Live Aid“-Spektakel. Ich meine, mich erinnern zu können, dass ich das meinen Eltern noch monatelang vorwarf, dass ich da nicht vor dem Fernseher sitzen konnte.
Auch dort in Bayern saß ich wieder viel vorm Radio und schnitt zwischendurch Musik mit — seinerzeit moderierte noch Thomas Gottschalk auf dem bayrischen Sender. Ich hatte mir vorher aber auch schon ein Mix-Tape gebastelt, wo natürlich „Shake the Disease“ drauf war, außerdem erinnere ich noch an „Two of Us“, zwei Musiker aus der Band von Hubert Kah, die mit „Blue Night Shadow“ einen Hit hatten.
Ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht mehr, ob ich „Kayleigh“ bereits auf meinem Tape hatte, oder das Lied erst da unten aus dem Radio aufnahm. Jedenfalls ist das Stück für immer Teil von meinem Soundtrack dieses Urlaubs und das hat auch damit zu tun, dass man dort ein sehr liebes Mädchen kennen lernte. Die niederländische Familie campierte nicht weit weg von uns, so dass man sie ständig und jeden. Tag sah, zwei Wochen lang. Ich war damals 14 und ich schätzte sie ebenso alt, vielleicht auch ein Jahr jünger. Wir redeten einige wenige Sätze miteinander und dennoch weiß ich nicht, wie sie heißt. Schon damals war ich die Mutter aller Flirt-Katastrophen.
Täglich himmelte ich sie aus der Distanz an, während Fish davon sang, sich wohl zu spät zu entschuldigen und Martin Gore einen Song textete, in dem es darum ging, dass es da eine Krankheit gibt, die unsere Zunge lähmt, wenn man versucht, mit dem richtigen Menschen zu sprechen. Diese verdammten Frauenversteher halfen mir mit ihren Texten echt null weiter bei diesem kleinen niederländischen Mädchen. Sie kam sogar rüber und fragte, ob wir zusammen Federball spielen wollen. Logisch, dass ich verneinte, es gab ja so viel Dringenderes zu tun im Camping-Urlaub. Was ein Glück, dass es damals noch keine Facepalm-Memes gab. Falls jemand je eine Zeitmaschine erfindet: Erinnert mich daran, dass ich zurück in diese Zeit reise und diesem 14-jährigen Scheißer in den Arsch trete.
Aber glücklicherweise hatte ich einen Plan. Ich merkte mir nämlich das Autokennzeichen vom Fahrzeug dieser Familie. Aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, die aber eventuell vieles erklären, weiß ich es heute noch — 35 Jahre später: HK-97-ZL! Ich konnte also nicht mit diesem süßen Mädchen reden, ohne dass ich mit Nasenbluten vor Aufregung zusammenbrach, aber hey — ich hatte das Autokennzeichen ihrer Eltern. Was dachte ich, was ich damit tun kann? Dumm wie ich bin, war ich dem Irrglauben erlegen, dass man von den ersten Buchstaben wie in Deutschland auf den Ort schließen konnte. Erst Jahrzehnte später wurde mir klar, dass die Zahlen und Buchstaben ziemlich willkürlich vergeben werden bei unseren westlichen Nachbarn. Bis dahin hatte ich natürlich bereits Stunden mit dem Diercke Weltatlas verbracht und jede niederländische Stadt danach untersucht, ob dort im Namen die Buchstaben H und K vorkommen.
Aber selbst, wenn man auf den Ort hätte schließen können. Was hätte ich gemacht, wenn ich die Stadt gewusst hätte? Wäre ich mal auf eigene Faust mit dem Zug hingefahren? Einfach mal hinstellen an irgendeine Straßenecke und abwarten, weil sie ja mit Sicherheit irgendwann vorbeikommen muss? Junge, Junge — jetzt, wo ich da drüber nachdenke, könnte ich mir für meine Dummheit gleich wieder selbst vor den Hals boxen.
Irgendwann verließ man morgens sein Zelt und musste feststellen, dass der Platz leer war, an dem die Familie die ganze Zeit campierte. Chance vertan, selbst Schuld! Die Begeisterung für Kayleigh blieb, ich besorgte mir nach dem Urlaub das Album und es ist bis zum heutigen Tage eines meiner allerliebsten überhaupt. Apropos Album: Die Niederländer hörten sehr viel Bruce Springsteen, das Album „Born in the USA“ hatte damals schon ein Jahr auf dem Buckel, ich lernte es aber in diesem Urlaub erst kennen. Klar, dass ich mir nach dem Urlaub auch dieses Album besorgte und auch das bis heute zu meinen Album-Lieblingen gehört.
Irgendwann starte ich bestimmt mal eine „Album der Woche“-Rubrik. Da werden dann ganz sicher beide Alben auftauchen. Aber bis dahin dauert es vermutlich noch ein wenig, wir wollen es ja nicht übertreiben hier 😉 Ich glaube, ich werde mir jetzt nochmal die komplette „Misplaced Childhood“ geben, aber vorher verlinke ich euch noch einen TV-Auftritt aus der Zeit damals. Marillion besuchten mit ihrer Hit-Single den legendären WWF-Club. Viel Spaß!
Pingback: Song der Woche (13): Bryan Adams – Heaven – Casis Blog