Politik und Gesellschaft

Am anderen Ende der Angst [Update]

Kleines Update am Ende des Artikels


Nervös lief sie durch die nächtlichen Straßen Dortmunds. Nur noch etwa 500 Meter bis zu ihrer Haustür. Sie hasste es, wenn sie dieses Stück von der U-Bahn-Haltestelle bis nach Hause so spät noch alleine gehen musste. Ihr Mann holt sie normalerweise an der U-Bahn ab – er hatte drauf bestanden, nachdem sie ihm gestanden hatte, mit wie viel Angst sie abends den Heimweg antritt. Er geht auch abends mit dem Hund raus, oder sie gehen zusammen.

Heute war er aber nicht da, um sie abzuholen – der monatliche Skatabend mit seinen Jungs. Also ging sie allein. Eigentlich war es ein schöner Abend. Es war erst Mai, aber selbst jetzt um kurz vor Mitternacht waren es noch über 20 Grad und es fühlte sich schon nach Sommer an. Sie hatte aber weder Freude an den angenehmen Temperaturen, noch einen Blick für den klaren Sternenhimmel. Noch 300 Meter. Hörte sie da Schritte außer ihren eigenen? Ja, da schien jemand hinter ihr zu sein. Die Schritte wurden lauter, die Person kam näher.

Noch 250 Meter. Sie drehte sich hastig um und erblickte einen großgewachsenen, stämmigen Mann. Er war schwarz gekleidet, trug Kopfhörer auf seinem kahlen Schädel – und war noch etwa 15 Meter hinter ihr. Sie merkte, wie ihr Herz spürbar schneller schlug. Sollte sie so tun, als ob sie telefoniere? Zu spät, der Mann würde sicher bemerken, dass sie nur ein Telefonat vortäuscht, wenn sie jetzt ihr Smartphone aus der Handtasche hervorholt. Instinktiv suchte ihre Hand in der Jackentasche nach dem Schlüsselbund und umschloss ihn mit festem Griff.

In Windeseile nahm sie ihn so zur Hand, dass die spitzen Schäfte der Schlüssel zwischen Ihren Fingern hervorstanden. Es war ein Handgriff, über den sie längst schon nicht mehr nachdachte. Sie hatte das schon so oft getan, dass der Schlüsselbund fast automatisch zu einer improvisierten Stichwaffe wurde.


Drees, der Ficker! Jetzt, wo es spannend wird, haut er die Bremse rein. Aber genau darum geht es: Es soll nicht spannend werden. Der Typ oben, war natürlich ich – wieder einmal unterwegs, um auf einer nächtlichen Runde die Birne freizubekommen und meine Schritte zu absolvieren, die ich jeden Tag schaffen möchte. Die beschriebene Frau ist nur ausgedacht, aber ich treffe diese Frauen eigentlich jeden Abend und jede Nacht. Für mich sind es einfach nur Frauen, über die ich normalerweise nicht nachdenke. Aber ich bin für diese Frauen eine mögliche Gefahr.

Das gilt erst recht, weil ich versuche, möglichst flott zu gehen, um mit strammem Tempo ein paar Kalorien mehr zu verbrennen. Ich denke normalerweise nicht darüber nach, dass ich eine Erscheinung sein könnte, vor der sich eine Frau nachts fürchtet. Deswegen trifft es mich auch immer ins Herz, wenn entgegenkommende Frauen die Straßenseite wechseln, oder plötzlich so tun, als würden sie telefonieren. Ich sehe mich einfach anders, als diese Frauen mich sehen. Für sie bin ich ein potenzieller Angreifer, tatsächlich bin ich ein tapsiger, ungefährlicher Bär.

Wieso ich da gerade drüber rede? Mich hat ein sehr häufig geteiltes Instagram-Posting einer britischen Influencerin – wieder einmal – dazu gebracht, über dieses Thema nachzudenken. Hier ist das Posting von Lucy Mountain – ihr seht eine kurze Nachricht, wie sie Nacht für Nacht millionenfach von Frauen an Freundinnen, Verwandte und Ehepartner geschickt wird. Schaut aber nicht nur aufs Bild, lest bitte auch den Text dazu:

Lucy erwähnt zu Beginn ihres Textes Sarah Everard. Ihr Fall bewegt in Großbritannien derzeit die Menschen. Die 33-jährige Frau wollte nachts im Süden Londons von einer Freundin aus nach Hause gehen und kam dort nie an. Mittlerweile steht fest: Sie wurde entführt und ermordet, angeklagt ist ein Elite-Polizist. Genau deswegen ist erneut eine Debatte entbrannt um die Sicherheit von Frauen, die alleine auf den Straßen unterwegs sind. In ihrem Posting schreibt Lucy u.a.:

Wir haben alle unsere Live-Standorte geteilt.
Wir haben alle unsere Schuhe gewechselt.
Wir haben alle unsere Schlüssel zwischen unseren Fingern gehalten.
Wir haben alle Smartphone-Anrufe getätigt, sowohl echte als auch gefälschte.
Wir haben alle unsere Haare in unsere Mäntel gesteckt.
Wir sind alle durch dunkle Straßen gerannt.
Wir haben alle über unsere Fluchtwege nachgedacht.

Lucy Mountain

Ist das nicht furchtbar? Wenn ich abends rausgehen möchte, gehe ich abends raus. Punkt. Die Vorbereitung dafür ist in der Sekunde abgeschlossen, in der ich diesen Plan fasse. Und Frauen machen sich immer und immer wieder all diese Gedanken, schon lange bevor sie die Straße betreten, denken über Uhrzeiten nach, über Wege, über Kleidung, über Strategien.

Mich macht das fertig, ganz ehrlich. Vor ein paar Jahren war ich da irgendwie noch nicht so besonders empfänglich für. Wieso soll ich die Straßenseite wechseln? Ich tue doch niemandem was. Aber doch, ich tue was: Ich mache Frauen Angst. Nicht, weil ich ihnen was getan habe oder tun würde, aber weil ich potenziell einfach so jemand sein könnte und Frauen einfach schon als kleine Mädchen gelernt haben, dass sie auf der Hut sein müssen. Leider ist es so: Diese Frauen haben Angst – ich bin auf der anderen Seite der Angst.

Seitdem ich das begriffen habe, versuche ich das im Blick zu haben, wenn vor mir eine Frau geht. Oft biege ich einfach in irgendeine Seitenstraße ab, oder ich wechsle die Straßenseite. Mir bricht da kein Zacken aus der Krone und bestenfalls fühlt sich eine Frau in dieser Sekunde weniger gefährdet. Am liebsten würde ich jeder Einzelnen erzählen, dass ich doch einer von den Guten bin und nichts Böses im Sinn habe. Aber natürlich weiß ich, dass so eine Aktion erst Recht für Panik sorgen würde. Irgendwie bin ich immer noch auf der Suche nach der richtigen Strategie und vielleicht muss ich einfach weiter Frauen zuhören, um zu lernen, was ich tun soll.

Dummerweise werden Frauen ihre Angst genau so lange nicht verlieren, wie übergriffige Arschlöcher draußen herumlaufen. Daran kann man als Einzelner herzlich wenig ändern. Aber wir können zuhören, Rücksicht nehmen und unser Tun reflektieren und am besten ständig überprüfen. Das alles empfiehlt sich ja sowieso in allen Lebenslagen, bei diesem Thema aber besonders, glaube ich.

Es bedrückt mich, dass fremde Frauen in mir eine Gefahr sehen. Aber mein Problem ist so winzig im Vergleich zu dem, was all diese Mädchen und Frauen Tag für Tag erfahren müssen. Ich habe keinen Schimmer, wie man das Problem gelöst bekommt. Aber ich will eben zuhören und lernen – und auch an meine Geschlechtsgenossen appellieren, ebenfalls darauf zu achten, fremden Frauen nicht zu sehr auf de Pelle zu rücken. Die können nämlich leider nicht riechen, dass wir ihnen nichts tun wollen.


Update: 17. März:

Ich glaube, das ist jetzt tatsächlich das erste Mal hier auf dem Blog, dass ich einen Artikel aktualisiere. Das hängt u.a. damit zusammen, dass ich darauf hingewiesen wurde, dass es eine Telefonnummer gibt, die Frauen anrufen können, wenn sie allein unterwegs sind. Dieses Heimwegtelefon könnt ihr jeden Abend anrufen (Sonntag – Donnerstag: 18-00 Uhr, Freitag & Samstag 18-03 Uhr) und werdet dann quasi am Telefon von ehrenamtlichen Helfer:innen nach Hause begleitet. Danke für den Hinweis! Die Nummer lautet: Tel.: 030/12074182 (deutschlandweit)

Ich halte das tatsächlich für eine sehr nützliche Institution, allerdings glaube ich dennoch, dass ein Symptom behandelt wird und nicht die Ursache. Nicht falsch verstehen: Alles ist richtig, was Frauen hilft, sich auf den Straßen sicher zu fühlen. Aber richtiger wäre es, wenn Frauen solche Hilfen überhaupt nicht nötig hätten.

Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, mich für euer tolles Feedback zu bedanken, welches mich auf verschiedensten Wegen erreicht hat. Viele Frauen haben ihre Geschichten und Sorgen mit mir geteilt und ebenso waren Männer dabei, die erzählten, dass es ihnen ebenso geht wie mir. Das macht mich happy, dass Menschen wie Toby, Jens, Nils, Niggels, Kai und einige mehr ebenfalls über Strategien nachdenken, wie man Frauen nachts auf den Straßen die Angst nehmen kann. Wir vermeintlich starkes Geschlecht benehmen uns oft wie die Axt im Walde und da tut es gut zu wissen, dass da draußen eben auch genügend tolle Männer sind, die gewillt sind, hinzuhören und Dinge zu verändern.

Heute bin ich wieder eine große Runde durch Dortmund marschiert – da ich ein paar Tage Urlaub habe, schon tagsüber. Ich war weit außerhalb der Innenstadt und im Nieselregen gingen da auf einem sehr einsamen Weg zwei Mädchen mit ihren Hunden vor mir her. Ich schätze die Mädels auf vielleicht 12,13 Jahre. Ich rief ihnen schon von etwa zehn Metern Distanz zu, dass sie sich nicht erschrecken sollen. Vermutlich sieht das witzig aus, wenn da ein korpulenter Glatzkopf herangeschnaubt kommt, jedenfalls lachten sie. Möglicherweise lag es auch an der Ankündigung „Achtung, dicker Mann!“ – ich weiß es nicht. Aber im Ernst: Ich denke, es ist besser, sich da kurz zum Löffel zu machen, als Frauen oder in diesem Fall Mädchen unnötig im Unklaren zu lassen.

Gerade nach den Reaktionen von euch ist mir das erst wieder bewusst geworden, was für einen Luxus ich genieße, wenn ich die ganze Zeit Musik, Sprachnachrichten oder Podcasts hören kann auf meinen Runden, weil ich einfach im Traum nicht auf die Idee käme, aufmerksam meine Umgebung nach verdächtigen Geräuschen zu scannen. Mich nervt es, dass ich Frauen hier nichts Aufmunterndes zurufen kann, weil ich mir nur schwer vorstellen kann, dass es für dieses Problem schon bald eine Lösung gibt. Aber es macht mir Hoffnung, dass ich auf so viele Männer gestoßen bin, die sich ebenfalls darüber Gedanken machen, wie man die Situation für Frauen entspannen kann.

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