Früher war alles besser … ach nee, doch nicht
Hui, was ist denn jetzt mit dem verkackten Drees los? Schreibt der echt zwei Tage hintereinander auf dem Blog? Jau, tue ich – ich bin im Flow, quasi. Nee, Quatsch – keine Bange. Es ergibt sich gerade einfach so. Weil ich das Gefühl habe, dass mir derzeit bei so mancher Äußerung der Kamm schwillt und ich es aufschreiben muss, bevor mir der Sack platzt. Gestern musste ich dringend was zu diesem Layla-Irrsinn schreiben, heute geht es eher um etwas, was ich schon vor einem Jahr hätte schreiben können.
Es handelt sich nämlich um einen Text, der aktuell wieder tausendfach kopiert und geteilt wird und der schon vor ziemlich genau einem Jahr kacke war, als ich ihn erstmals las. Er fängt an mit „Unsere Generation war tolerant. Und sie wusste es nicht. Ihr habt euch das Fluid Gender und damit die Homophobie ausgedacht.““ – Allein diese Einleitung lässt mich direkt wieder an die Decke gehen. Im folgenden Posting könnt Ihr den Text komplett lesen, wenn Ihr wissen wollt, worum es geht.
So, seid Ihr dann jetzt im Thema? Dann kann ich Euch sagen, wieso mich der Text so aufregt. Und was das mit meiner Headline zu tun hat. Wir neigen nämlich dazu, manchmal mit verklärtem Blick auf die Vergangenheit zurückzublicken und seufzend zu erklären: „Früher war alles besser.“ Das ist nicht mal böswillig, sondern unserem Gehirn geschuldet, welches uns da so manchen Streich spielt. Wir verklären Dinge halt nachträglich und irgendwann wirken sie besser, als sie vielleicht tatsächlich waren. Mag sein, dass ich mich mal ausführlicher mit dieser Retromanie befasse, aber jetzt geht es um was anderes.
Bei dem Pamphlet geht es nämlich im Kern nicht darum, sich an der verklärten Vergangenheit zu erfreuen. Vielmehr wird sie dazu genutzt, um die heutige Gesellschaft zu diskreditieren. Was ich meine? Klären wir jetzt, wenn ich mir einige Stellen aus dem Text nacheinander vornehme. Im Wesentlichen handelt der Text davon, dass damals in den Achtzigern alles eine bunte, fröhliche Welt war, in der außergewöhnliche Charaktere wie Boy George, Freddie Mercury oder Elton John glücklich leben konnten, ohne dass sich jemand an ihrer sexuellen Ausrichtung gestört hätte. Spoiler-Alarm: Nope, das war so nicht. Aber der Reihe nach:
Unsere Generation war tolerant. Und sie wusste es nicht. Ihr habt euch das Fluid Gender und damit die Homophobie ausgedacht.
Nein, sie war nicht tolerant. Spätestens, als 1985 die Angst vor AIDS um die Welt ging, war der Ofen aus, was Toleranz angeht. In Bayern wurde sogar diskutiert, ob man Schwulenclubs prophylaktisch schließt, Erkrankte wegsperrt und Risikogruppen zur Not auch mit Gewalt testet (Quelle: RKI). Und was die laut obiger Aussage erst frisch „ausgedachte Homophobie“ angeht: Bis 1969 war in Deutschland Sex zwischen Männern eine Straftat! In Nazideutschland wurden etwa 500.000 Männer wegen Ihrer Homosexualität verurteilt.
Wiederholungstäte wurden als Schwerverbrecher eingestuft. Viele Tausend von ihnen landeten im KZ und wurden dort mit dem „Rosa Winkel“ gekennzeichnet (Quelle: Arolsen Archives). Nein, Homophobie ist tatsächlich keine Erfindung der letzten Jahre. Was ist das überhaupt für ein Irrsinn zu glauben, dass es Homophobie nicht gab, weil es die Vokabel nicht gab?
Ich komme aus der Generation, die David Bowie, Lou Read, hörte und liebte und sich nie das Problem stellte, was für sexuelle Vorlieben sie hatten. Es war uns egal, wir waren zufrieden und selig, weil ihre Musik uns berührte! Elton John, Freddy Mercury und George Michael.
Elton John hat in den Siebzigern bereits erzählt, dass er bisexuell ist. Er war allerdings in den Achtzigern bis 1988 mit einer Frau verheiratet. Dass wir nicht über seine Sexualität getuschelt haben, lag also schlicht daran, dass er damals für Außenstehende in einer heterosexuellen Beziehung lebte. Später dann erklärte er, dass er nicht Bi sei, sondern homosexuell. George Michael hat übrigens sogar 1998 erst öffentlich erklärt, dass er schwul ist (Quelle: Tagesspiegel). Er hat sein Coming Out bewusst erst so spät gehabt – er wollte sich nicht outen, solange seine Mutter noch lebte (sie starb 1997).
Nach dem Coming Out hatte George Michael dann einen schweren Stand in den USA. In einem Interview sagte er: „Ich war so naiv! Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, wie schwulenfeindlich die Amerikaner doch sind. (Quelle: Spiegel)“. Freddie Mercury hat richtig in die Scheiße gegriffen, denn er wurde in England gleich doppelt diskriminiert: Weil er (auch) Männer liebte und wegen seiner indischen Herkunft.
Als Boy George ankam, fragten wir uns nicht, ob er Männchen, Weibchen oder beide mag. Wir haben einfach seine Musik genossen. Und als Jimmy Sommerville uns seine Geschichte als Kleinstadtjunge erzählt hat, waren wir gerührt und haben mitgesungen.
Boy George wurde als Kind gehänselt, weil er schon immer so feminin war und früh wusste, dass er nicht so ist wie andere Jungs. Wir haben uns tatsächlich damals nicht gefragt, ob er „Männchen, Weibchen oder beide mag“ – weil er als einer der allerersten Stars sehr früh offenbarte, dass er schwul ist. Er hat damit unzähligen Menschen den Weg geebnet, die es mit ihrer Homosexualität deutlich schwerer hatten als er.
Und der Teil mit Jimmy Somerville macht mich wirklich sauer (nicht nur, weil der Name falsch geschrieben ist). Er singt sogar in dem Song davon, wie der Protagonist sein Elternhaus und seine Heimatstadt verlässt, weil er dort nicht als die Person akzeptiert wird, die er ist. Ausdrücklich ein Song mit autobiografischen Zügen, denn auch Somerville verließ früh seine Stadt. Im Video bekommt der schwule Protagonist für seine Homosexualität aufs Maul. „Wir waren gerührt und haben mitgesungen“ beschreibt es da jetzt eher merkwürdig.
Boy George und Jimmy Somerville als offen Schwule waren sowas wie Vorreiter für eine ganze Generation. Es gab Vorurteile, Diskriminierung und Gewalt gegen Schwule und es waren Künstler wie die beiden, die ungewollt zum Sprachrohr der schwulen Community wurden. Gäbe es Diskriminierung und Homophobie nicht, hätte es vermutlich auch kein Sprachrohr gebraucht, aber here we are. Es ist für mich abenteuerlich, wie man sich als angeblich in den Achtzigern sozialisierter Mensch nicht mehr wissen kann, wie schwer es Homosexuelle damals hatten!
Und es gab keine Gesetze, die uns zwingen sollten, solidarisch zu sein oder zumindest an einem „Zeichen gegen…“ teilzunehmen.
Was für ein Scheiß ist das jetzt? Welches Gesetz zwingt uns, solidarisch zu sein oder an „Zeichen gegen …“-Events teilzunehmen? Wie kann man sowas behaupten – oder gar selbst fest daran glauben, dass es das gibt? Jeder Vollarsch hat immer noch jedes Recht der Welt, sich wie ein Hinterwäldler zu gerieren und Schwule kacke zu finden.
Ich würde gerne verstehen, was in der Zwischenzeit passiert ist, denn meiner Meinung nach haben all diese Zensoren die einzige Wirkung, das zu erzeugen, was sie zensieren.
Und wieder: Wer sind diese Zensoren und was wird zensiert? Je mehr ich über den Text nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass der Verfasser bzw. die Verfasserin nicht ein Problem mit Zensur hat, sondern damit, dass nicht alle die Denkweisen dieser Person begrüßen. Das ist auch so ein Phänomen, dass immer mehr Menschen der Meinung sind, sie dürfen nicht mehr alles sagen, bloß weil es Viele gibt, die das Scheiße finden, was gesagt wird.
Toleranz wächst niemals aus Intoleranz, sondern Hass und Spaltung! Meiner Meinung nach brauchten wir keine Beschränkungen, weil die Erziehung unserer Eltern uns Werte wie Hilfsbereitschaft, Empathie, Nächstenliebe und echte Toleranz vermittelten und Verstöße gesellschaftliche Nachteile mit sich brachten! Bis ihr gekommen seid um uns einen Schuldkult aufzuzwingen und uns so gegeneinander aufzubringen!
So, letzter Abschnitt und wieder ein sagenhafter Unsinn. Wenn wir von unseren Eltern durch die Bank alle mit Hilfsbereitschaft, Empathie, Nächstenliebe und Toleranz ausgestattet wurden: Wieso gibt es dann so viel Hass und Gewalt und Spaltung und Diskriminierung? Haben uns unsere Eltern diese Werte einfach nur sehr beschissen vermittelt? Oder könnte es – und das halte ich für deutlich wahrscheinlicher – auch einfach sein, dass sehr viele von uns gar nicht so empathisch, hilfsbereit und tolerant sind, wie sie tun?
Wie man die Vokabel „Schuldkult“ in so einem Text unterbringen kann, ist mir ein Rätsel. Was für ein Kult soll das sein? Und wer hätte diesen Kult etabliert und aus welchem Grund? Es ist doch kein Schuldkult, wenn ich versuche, heute weniger rassistisch und sexistisch zu sein, als ich es vor Jahrzehnten mal war? Ich fühle mich ja nicht schuldig, sondern stelle fest, dass wir gesellschaftlich wachsen können. Wir schmeißen weniger Plastik weg, stellen erfreulicherweise keine afrikanischen Ureinwohner mehr in europäischen Zoos aus, kümmern uns um nachhaltige Energie, lassen Homosexuelle heiraten und auch sonst ihre Liebe ausleben und so weiter und so fort.
Das ist super, dass zumindest Teile der Gesellschaft diese Fortschritte machen. Aber wenn irgendwas verbessert wird, bedeutet es auch, dass es vorher eben eher suboptimal war. Das ist kein Drama und nichts, wegen dem wir uns schuldig fühlen müssen. Aber man sollte sich dessen zumindest bewusst sein. Und dazu ist es nützlich, sich der Vergangenheit gewahr zu sein und sie nicht zu irgendeiner „früher war alles besser“-Scheiße zu verklären, die sie niemals war.
Es enttäuscht mich zu sehen, wenn so merkwürdige Texte zigtausendfach geteilt und mit Kommentaren wie „genau so isses“ versehen werden. Wir können unterschiedliche Meinungen haben, aber sollten doch zumindest die selben Fakten nutzen, oder nicht? Und wer sich an die Fakten hält, kann niemals zu dem Schluss kommen, dass das Teilen eines solchen viralen Irrsinns tatsächlich eine gute Idee ist.
Oh, gleich zwei Uhr, dann höre ich mal auf. Kommt gut ins Wochenende, lasst Euch nicht ärgern (schon gar nicht online) – reicht doch dicke, wenn ich mich ständig ärgern und triggern lasse, oder?