Offener Brief eines Kanzlers
Puh, ganz ehrlich: Ich möchte grundsätzlich jeden Tag was schreiben, schreibe faktisch aber irgendwie fast nie. Das liegt an Dingen, für die ich mich hier ständig eingangs in meinen Artikeln entschuldige, quasi seit dieses Blog existiert. Das liegt aber auch daran, dass ich gerne über Politik schreiben möchte und sich jeden Tag so un-fucking-fassbar viel verändert, dass möglicherweise der gerade angefangene Artikel vielleicht schon in einer Stunde wieder obsolet sein könnte. Vor einigen Tagen wussten Viele (inklusive Söder) noch nicht, wie wichtig die Grünen noch für die GroKo (aka KleiKo) werden würden und bis gestern wussten wir nicht, dass diese Grünen dann tatsächlich den Grundgesetzänderungen zustimmen und noch ordentlich Klima-Kohle reinverhandeln.
Deshalb halte ich mich mit Einschätzungen aktuell oft zurück: Weil ich selbst oft den Überblick verliere, egal, ob ich auf Deutschland, die EU oder – noch krasser – in die USA blicke. Aber diesen Beitrag hier schreibe ich jetzt dennoch, weil ich bei Friedrich Merz seit langem glaube, dass er kein Kanzlermaterial ist und die Chancen ausgesprochen gut stehen, dass ich das selbst in Monaten noch genauso sehe.
Worum soll es hier gehen jetzt? Um eine Hilfestellung meinerseits. Denn ja: Ich möchte zwar keinen Kanzler Merz, werde es aber nicht verhindern können. Und deshalb möchte ich dem Friedrich ein wenig in die Spur helfen – mit einem offenen Brief. Würde er exakt diesen Brief ans Volk richten, wäre er auch nicht deutlich sympathischer. Er würde immer noch nicht sehr nahbar wirken und erst recht nicht wie der Kanzler, der aus sich heraus in der Lage ist, das Land in eine stabile Zukunft zu führen.
Aber es würde vielleicht helfen, ihn zumindest ein bisschen ernst zu nehmen, und dabei dieses kolossale Problem abzuschwächen, welches die Union mit ihrer Glaubwürdigkeit hat. Ist das vermessen zu glauben, dass man einem Kanzler Worte in den Mund legen kann, die seine und die Lage der Partei verbessert? Logisch. Lasse ich mich davon deswegen abbringen? Natürlich nicht! Also los – das sind die Zeilen, von denen ich mir wünschen würde, dass er sie an uns richtet, also an sein Volk:
Offener Brief an die Bevölkerung eines wundervollen Landes
Heute richte ich mich, zu Beginn meiner Amtszeit als Bundeskanzler Deutschlands, an Sie, die Menschen in diesem wunderbaren Land. Also an die Deutschen, deren Heimat dieses Fleckchen Erde seit vielen Generationen ist. An die Deutschen, die vielleicht weniger lange hier sind und bei denen noch zwei Herzen in einer Brust schlagen, und deren Heimat sowohl Deutschland als auch ein Herkunftsland ist. Aber natürlich auch an diejenigen, die keine Deutschen sind, aber hier unter uns leben, weil sie hier arbeiten, in diesem tollen Land einfach ihr Glück finden wollen, oder aus ihrer Heimat fliehen mussten, und hier völlig zurecht den Wunsch hegen, einfach nur in Sicherheit leben zu können.
An Sie alle richte ich, Friedrich Merz, mein Wort, weil ich als Ihr Kanzler der Kapitän sein werde, der dieses Schiff namens Deutschland – und namens Europa – bei stärkstem Seegang in sichere Gefilde steuern will. Und um beim Seefahrt-Bildnis zu bleiben: In diesem Boot sitzen wir alle gemeinsam und ich sehe nicht ein, auch nur einen einzigen von Ihnen auf offener See zurückzulassen. Damit wir dieses Land aber in eine stabile Zukunft gelenkt bekommen, braucht es mehr als einen Kapitän und Steuermann. Es braucht jeden Einzelnen von uns! Kriege, autoritäre Regierungen in vielen Ländern, eine Welt im technologischen Wandel und allen voran der Klimawandel mit all seinen Auswirkungen sind nur einige der Probleme und Aufgaben, denen wir uns gegenüber sehen. Nur, wenn wir uns unterhaken, kompromissbereit sind und gewillt, alle zusammen an einem Strang zu ziehen, können wir diese vielen Krisen und Veränderungen durchstehen, und nur dann werden wir hinterher zurückblicken und feststellen, dass Deutschland mindestens so gut dasteht, wie wir alle es uns immer gewünscht haben.
Damit das funktionieren kann, müssen wir uns vertrauen können, aufeinander achten, und uns gegebenenfalls auch verzeihen können. Vertrauen ist ein großes Wort – Verzeihung ist es ebenso. Und ja, ich bin angetreten, um dieses Amt des Kanzlers einzunehmen, mit dem Willen, das Bestmögliche für Partei und natürlich für Deutschland zu tun. Ich bin mir dessen bewusst, dass ich in der Vergangenheit Entscheidungen getroffen habe, die nicht Ihrer aller Beifall findet. Das ist in einem gewissen Rahmen in Ordnung, weil wir nun mal alle unterschiedliche Vorstellungen davon haben, welche Richtung die vernünftigere ist.
Aber ja, ich kann rückblickend keinen Hehl daraus machen, dass ich falsche Entscheidungen getroffen habe. Egal, ob es um Frauen ging, um Menschen mit Migrationshintergrund, oder auch um besorgte Menschen, die aus dieser Sorge um Deutschland auf die Straßen gingen, und von mir dafür als linke und grüne Spinner diskreditiert wurden: In all diesen Fällen traf ich falsche Entscheidungen, und kommunizierte in einer Art und Weise, die Ihnen allen und dem Ansehen meines Amtes nicht gerecht werden.
Dafür bitte ich Sie alle inständig um Verzeihung! Ich bin ein manchmal zu sehr auf den eigenen Bauch hörender Politiker, aber ich kann Ihnen versprechen, dass ich auch bei jedem unangemessenen Satz und jeder rückblickend unklugen Entscheidung stets das Richtige im Sinn hatte, so wie es sich mir darstellte. Das deutsche Volk mit seinen etwa 84 Millionen Menschen kann es sich nicht leisten, einen impulsiven Menschen an seiner Spitze zu dulden, der im Alleingang schwerwiegende und unkluge Entscheidungen für das Land treffen könnte. Daher sei Ihnen versichert, dass ich aus meinen Fehlern gelernt habe, und dass ich vor allem auf einen Stab sehr kluger Menschen vertraue, die mit mir jede wichtige Entscheidung abklopfen, die für das Wohl dieses Landes getroffen werden muss.
Ich werde also selbstverständlich auf die Expertise der jeweiligen Ministerien vertrauen, werde stets auch die Stimmen der Opposition hören und abwägen. Wir werden bei jedem wichtigen Thema Experten aus Wissenschaft und Industrie hinzuziehen, und wir werden bei verschiedenen Themen auf Bürgerräte setzen. Wie gesagt: Es braucht uns alle, um all diese Klippen zu umschiffen.
Aber lassen Sie uns noch einmal zum Punkt „Vertrauen“ zurückkehren. Ich weiß, dass ich Ihren Vertrauensvorschuss brauche, um dieses Land zu regieren. Und ich weiß zudem, dass ich Ihnen allen beweisen muss, dass dieses Vertrauen gerechtfertigt ist. Daher möchte ich Sie und explizit die Kolleg:innen von Bündnis 90/Die Grünen um Verzeihung bitten, was den Wahlkampf angeht, der mir dieses Amt bescherte.
Sehr früh war mir klar, dass die Aufgaben deutlich größer sind als das, was dieses Land in finanzieller Hinsicht zu stemmen vermag. Unser goldenes Kalb war die schwarze Null. Was zu gegebener Zeit seine Richtigkeit hatte, funktioniert schon lange nicht mehr. Ich habe eingesehen, dass die Last, die wir unseren Kindern hinterlassen, nicht etwa mögliche Schuldenberge sind, sondern marode Brücken und Straßen, heruntergewirtschaftete Schulen und vieles mehr.
Wie gesagt: Das ist mir schon lange alles klar und dennoch haben wir als Union kluge Vorschläge der Ampel und speziell der Grünen beiseite gewischt. Aus meiner absoluten Überzeugung heraus, dass ich einen Politikwechsel herbeiführen kann, den dieses Land dringend benötigt, habe ich das Wohl meiner Partei und den Wunsch der Kanzlerschaft über unser Land gestellt. Das ist eine fulminante Fehleinschätzung unsererseits und als solche leider auch nicht wiedergutzumachen. Dafür bitte ich bei Ihnen allen um Vergebung.
Genau deswegen brauchte es jetzt diesen Kompromiss mit den Grünen und ich hoffe, dass unser Einlenken, unter anderem beim Bewilligen von 100 Milliarden Euro für den Kampf gegen den Klimawandel, als erster kleiner Schritt in die richtige Richtung verstanden wird. Es ist aus politischer Sicht normalerweise nicht klug, Ministerposten an Menschen zu vergeben, die der Opposition angehören, übrigens aus beidseitiger Sicht nicht. Aber weil die Lage eine besondere ist und wir neben den Problemen der Welt auch noch den Rechtsextremismus in eigenen Reihen im Bundestag in Form der AfD bekämpfen müssen, müssen wir besondere Maßnahmen ergreifen und mit allen demokratischen Parteien eng zusammenarbeiten.
Dazu gehört, dass wir die Linke nicht länger auf ein Niveau mit der AfD stellen und verteufeln. Dazu gehört aber auch, dass wir uns vorstellen können, ein wirkmächtiges Klima-Ministerium mit einem Vertreter oder einer Vertreterin aus Reihen der Grünen zu besetzen. Wir sind uns dessen bewusst, dass das auch die Oppositionsarbeit erschwert. Würde sich beispielsweise aber ein Robert Habeck erneut in den Dienst des Landes stellen wollen, wäre das für ganz Deutschland ein Gewinn, ein Zeichen und eine Chance.
Liebe Bundesbürger:innen und alle, die in diesem Land leben: Bitte helfen Sie uns, als Regierung Deutschland und Europa helfen zu können. Wir sind nach wie vor eines der wundervollsten Länder auf diesem Planeten. Unser Wort hat weltweit Gewicht und trotz einer geringen Größe sind wir die drittgrößte Wirtschaft mit riesigem Potenzial. Es gilt, Kriege zu beenden und den Frieden dauerhaft zu sichern. Es gilt, KI als eine unglaublich große Chance zu betrachten, mit der wir uns wirtschaftlich auf solide Beine stellen und darüber hinaus nie für möglich gehaltene Fortschritte in vielen Bereichen des Lebens erzielen. Es gilt, den Autokraten dieser Welt zu zeigen, dass Globalismus eine Chance ist und kein Risiko, und dass wir gemeinsam viel, viel mehr bewirken können, als wenn jeder nur für sich allein arbeitet. Es gilt zu beweisen, dass dieser Planet und die Menschheit noch zu retten ist und wir Klima-, Arten- und Umweltschutz auf ein neues Level hieven können.
Als künftiger Kanzler dieses Landes gelobe ich Ihnen, eine Regierungsmannschaft zusammenzustellen, die alle wichtigen Probleme angeht, ohne jeweilige Parteiinteressen über das Wohl Deutschlands zu stellen. Geben Sie uns bitte die Chance, Ihnen genau das in den nächsten vier Jahren beweisen zu dürfen. Lassen Sie uns das beste Deutschland bauen, dass es je gab!
… machen wir uns nichts vor: Er wird so etwas nicht sagen. Auch nicht so was ähnliches. Er ist der unerfahrene und impulsive Kanzler, der üble Leute im Gepäck hat, und daran wird sich leider nichts ändern. Vielleicht sollte der alte Bundestag einfach nicht zustimmen gleich, wenn es darum geht, diesen Kanzler mit einem fetten Geldumschlag im Wert von einer Billion Euro auszustatten. Aber unabhängig davon: Dieser Typ wird das Gesicht Deutschlands in den nächsten vier Jahren, der Steuermann dieser Nation sein. Ich mag das nicht, muss das aber ebenso zähneknirschend hinnehmen wie eine Bundestagspräsidentin Klöckner und Spießgesellen wie Linnemann, Dobrindt und Spahn in Ministerämtern.
Das ist gruselig, richtig gruselig! Aber das ändert nichts daran, dass wir ein wundervolles Land sind, mit wundervollen Menschen und einem Füllhorn an Chancen. Ich füge mich jetzt hier in mein Schicksal, einfach in der naiven Hoffnung, dass es ja doch vielleicht nicht so schlimm wird und dass Merz irgendwie zufällig wie ein präsidiales Gespür entwickelt. Aber ich versuche, irgendwie ein Mindset zu entwickeln, welches auf uns blickt, auf die Menschen in Deutschland. Wir dürfen eins nicht vergessen: Wir stecken da nun mal alle zusammen drin und wir kommen aus dieser Krise auch nur gemeinsam wieder raus. Also wir gemeinsam minus die Nicht-Demokraten der AfD. Die gilt es, in Schach zu halten bzw. zurückzudrängen in den nächsten Jahren.
Wie das alles gelingen kann, während wir versuchen, riesige Probleme zu stemmen? Ich hab noch keinen Schimmer. Aber wichtig ist, dass wir es versuchen. Wenn wir schon nicht wegen der Regierung aus all diesen Krisen herausfinden, dann eben trotz dieser Regierung. Einen Versuch ist es allemal wert, denn ganz ehrlich: Was sollte die Alternative sein?
PS: Der Transparenz halber – für das Foto habe ich einen Screenshot verwendet und den Kollegen Merz mit der Hilfe von KI zum Lachen gebracht.