Words are meaningless: Fletch ist tot
Gestern war Vatertag. Ein besonderer Tag. Nicht, weil man nach einer Weile mal wieder schlimm getrunken hat. Eher, weil ich meinen alten Freund Frank mal wieder gesehen habe. Ich habe ihn vermutlich seit den Neunzigern nicht mehr persönlich getroffen. Wir stehen lose in Kontakt über Facebook, mehr aber auch nicht. Gestern hat er sich gemeldet und den unzähligen „Wir müssten echt mal wieder was zusammen machen“-Dialogen damit ein Ende bereitet, indem er sich meiner kleinen Umtrunk-Gruppe angeschlossen hat.
Wieso ich Euch das gerade erzähle? Weil da ein riesiger, trauriger, schwarzer Elefant im Raum steht seit gestern Abend. Weil mit Andrew „Fletch“ Fletcher gestern unerwartet ein Mensch gestorben ist, bei dem ich langsam erst zu ahnen beginne, was für einen Impact sein Tod haben könnte. Mir fehlen gerade noch die Worte, daher ist es für mich einfacher, mit etwas anderem einzuleiten, wie eben dem Wiedersehen mit einem langjährigen Freund.
Es ist aber auch aus einem anderen Grund berichtenswert, dass ich gestern Frank gesehen habe. Es müsste zwar irgendwo ein Foto existieren, auf dem ich mit Martin Gore posiere. Das habe ich aber leider nie zu Gesicht bekommen. Aus diesen „guten, alten“ Zeiten, in denen man das Glück hatte, die Band auch mal nach Konzerten und auf Partys zu treffen, existiert daher nur ein einziges Foto, auf dem man mich mit einem Bandmitglied sieht. Es ist ein Foto, auf dem Frank und ich Fletch in die Mitte nehmen.
Ich sehe Frank über 25 Jahre nicht und just an dem Tag unseres Wiedersehens stirbt Andy Fletcher! Muss man da nicht zwangsläufig daran glauben, dass da irgendjemand irgendwo im Kosmos diese Geschichten ersinnt? Unsere Leben wie Fäden miteinander verwebt? Ihr wisst, dass ich nicht wirklich an eine höhere Macht glaube und so ist es wohl einfach nur ein unglaublicher Zufall.
Jeansjacke, Haare, keine fette Pauke und ’ne Cola in der Hand. Die 18-jährige Version von mir war augenscheinlich ein ganz anderer Mensch als ich. Aber eine Sache hat sich in all den Jahren nicht verändert: Die Liebe zu dieser Band! Ich habe es hier auf dem Blog, aber auch auf Facebook und in unzähligen persönlichen Gesprächen immer und immer wieder erzählt, wie viel mich mit dieser Band verbindet, wie wichtig sie für mich ist und wie lange diese Jungs mich bereits durchs Leben begleiten.
Ich bin jetzt 51 Jahre alt, 40 Jahre davon bin ich Depeche-Mode-Fan. Mir fehlt ein wenig die Erinnerung an die allerersten Singles, muss ich zugeben. Aber ab „Leave in Silence“ habe ich die Band bzw. ihre Musik als besonders empfunden und seitdem warte ich jedes Mal wieder gespannt auf neue Songs. Ab Stripped war dann alles anders: Der Song war der Vorbote des Über-Albums „Black Celebration“ und für mich musikalisch der Startschuss in eine ganz neue musikalische Ära der Band.
Es wurde musikalisch düsterer. Ich war damals seit einem Tag 15 Jahre alt, als ich sie zum ersten Mal live sehen durfte. Also in einem Alter, in dem man herausfindet, wer man ist, wer man sein will. Depeche Mode haben da bei mir einfach einen Nerv getroffen. Musikalisch. Textlich. Optisch. Irgendwie stellte ich fest, dass ich in manchen Dingen anders funktionierte als die Leute um mich herum. Ich hatte da eine Melancholie in mir, die das ganze Leben nicht mehr weggehen sollte und für die Depeche Mode den Soundtrack lieferten.
Der Soundtrack meines Lebens
Apropos Soundtrack: Die Phrase „Soundtrack meines Lebens“ ist eine weit gebräuchliche und eine, die ich gerade in meiner Bubble sehr oft höre. Egal, wie viele musikalische Einflüsse uns geformt haben: Für viele von uns gibt es nichts, was uns nur annähernd so geprägt hat wie die Musik der Basildon-Boys. Das äußert sich natürlich auch bei jedem anders.
So kenne ich viele Künstler:innen, die ohne Depeche Mode nie auf die Idee gekommen wären, selbst Musik zu machen. Es gibt diejenigen, die der Meinung sind, dass Depeche Mode seit der „Songs of Faith and Devotion“ kein gutes Album mehr abgeliefert hätten. Je nachdem, wen man fragt, bekommt man statt „SOFAD“ dann auch mal „Violator“ oder „Ultra“ oder sonst ein Album genannt. Aber egal, auf welchem Fan-Level man sich bewegt: Ob man sie nur in den Achtzigern gehört hat, durch sie zu Musik inspiriert wurde, ob man auch die neuen Songs noch feiert: Spätestens auf den Konzerten sind wir dann doch wieder eine homogene Masse, die ihren Idolen huldigt.
Bei Songs wie „Everything counts“ sind wir dann plötzlich alle eben wieder jung und liegen uns feiernd in den Armen. Ich schreibe hier jetzt immer noch um den heißen Brei herum. Weil ich vermeiden will, darüber zu reden, dass Andy Fletcher nicht mehr lebt. Weil es sich so unwirklich anfühlt. Und weil ich über das persönliche Schicksal und die Schmerzen seiner Familie und Freunde gar nicht nachdenken möchte.
Ich möchte auch keinen Nachruf schreiben, der sich wie ein Band-Steckbrief liest, in welchem nur die Stationen der Band aufgelistet werden. Dass er vor Depeche Mode zusammen mit Vince schon in mehreren musikalischen Projekten aktiv war, dass sie von Rammstein über Linkin Park bis zu den Nine Inch Nails Bands inspiriert haben, die längst selbst Kultstatus genießen und dass sie 100 Millionen Platten verkauft haben, können wir ja auch an jedem anderen Tag an 1000 verschiedenen Stellen im Netz nachlesen.
Black Day
Aber heute ist nicht „jeder andere Tag“! Heute ist der Tag nach Andy Fletchers Tod. Der Tag, an dem plötzlich alles anders ist. Ein Black Day! Heute ist der Tag, an dem ich durch Facebook und Insta scrolle und überall nur noch ins Antlitz von Fletch blicke. Jedes Posting ist ein Stich ins Herz. Weil jeder Beitrag aufrichtigen Schmerz atmet. Ihr postet Eure Gedanken, gemeinsame Fotos mit Fletch, Kondolenzbeiträge, Videos und auch schöne Geschichten, die Euch mit ihm verbinden.
Es gibt zum Glück immerhin nur sehr, sehr wenige Stimmen, die wieder einmal sagen, dass der Tod eines Künstlers keinen anderen Wert hat als der Tod jedes anderen nicht-berühmten Menschen. Auch nur sehr wenige Stimmen, die uns erklären wollen, dass Andy musikalisch nicht wichtig war für die Band.
Durch den Blick in die sozialen Medien ist mir aber nicht nur klar geworden, wie viele Menschen unter Andys Tod leiden. Es hat mir auch wieder einmal verdeutlich, wie sehr diese Band mein Leben verändert hat. Von Frank hab ich oben schon erzählt. Wir kannten uns aus der Schule und wurden Freunde, als wir feststellten, dass wir beide glühende DM-Verehrer sind. Wir saßen oft nur zusammen und hörten die Songs, besuchten auch Konzerte zusammen und die legendäre „Peters Pop Show“, wo auch obiges Foto entstand.
Damals lebte ich in einer sehr kleinen Bubble mit so depeche-verrückten Menschen wie ich einer war. Ich denke an die Wuppertaler, bei denen ich wilde Depeche-Partys gefeiert habe und mit denen ich auch Depeche-Partys besuchte. Eine dieser Partys – die Party for the Masses – besuchten wir ebenfalls gemeinsam. Das war lange, bevor ich den Organisator Frank kennen- und schätzen lernte – auch er ist heute ein lieber, langjähriger Freund. Binnen fünf Tagen musste er sich mit seinem HSV vom Erste-Liga-Traum und dann von Andy verabschieden.
Ich denke auch an meine langjährige Freundin Bianca, die ich kurioserweise am Telefon kennenlernte: „Hallo, Du wirst mich nicht kennen. Ich bin die Bianca aus Essen“. Sie hatte erfahren, dass ich das Bootleg-Video eines Dortmunder DM-Konzerts auf VHS hatte. Ich überspielte ihr also das Konzert und wir wurden Freunde auf Lebzeit. Dann kam irgendwann das DM-Forum auf Svens Seite depechemode.de. Es war kurz vor dem Release des Albums „Ecxiter“ und durch das Forum änderte diese Band wieder einmal mein Leben.
Ich lernte meine große Liebe Katharina kennen und fand unzählige Depeche-Mistreiter:innen, viele von ihnen ähnlich verrückt nach dieser Band wie ich. Zoni, Niggels, Körsi, Sandie, Christin, Catrin und viele mehr lernte ich damals sehr schnell auch offline kennen und bin glücklich, auch heute noch mit ihnen befreundet zu sein. Ich lernte die „Ruhrpottgören“ kennen – Jini, Bocki und Claudia. Mit denen machte ich fortan den T-Club in Oberhausen unsicher, wo ich den großartigen Marc Kellner traf (und in mein Herz schloss) und die ganze Clique der Oberhausener Depeche-Hardliner.
Das Forum war schon sehr besonders. Viele der lieben Menschen – zum Beispiel Cleany, Fledge oder Urmel – spreche ich auch heute noch wie selbstverständlich mit ihren Forennamen an. Sehr gern denke ich an die Münster-Bande, zu der beispielsweise Dani, Marcel und Dirk zählen. um da mal nur drei rauszugreifen. Aber es gab auch Leute, die man im Forum nicht auf dem Schirm hatte und später erst offline schätzen lernte. Dazu gehören beispielsweise auch Ohst und Szapi, heute mit meine liebsten Freunde.
Das Forum gibt es schon lange nicht mehr, aber mir geht immer noch das Herz auf, wenn ich alte Mistreiter wie Falk, Micha oder Dennis irgendwo mal wieder treffe. Andere Menschen traten über die DM-Mailingliste „Insight“ in mein Leben, so wie mein lieber Freund Tom. Ingo hingegen – unsere Depeche-Außenstelle London – lernte ich über Twitter kennen. Sowohl Tom als auch Ingo sind nicht nur DM-Fanatics, sondern auch noch „Blaue“ und haben damit natürlich einen besonderen Platz in meinem Herzen.
Auch lange nach dem Forum hat es nicht aufgehört, dass ich besondere Menschen durch die Musik von Depeche Mode kennenlerne. Ich denke da gerade ganz besonders an Leonie und Pinzi, die sich erst zur letzten Depeche-Tour in mein Herz geschlichen haben. Wozu das ganze Name-Dropping, bei dem ich natürlich auch wieder eine Million Namen nicht genannt habe? Vermutlich, weil mir seit gestern Nacht wieder klargeworden ist, wie trostlos mein Leben wäre, wenn es nicht diese Band gäbe und alles, was für mich daraus entstanden ist, inklusive so vieler wirklich zauberhafter, toller Menschen.
Nothing’s Impossible
Neben Trauer ist es ein Gedanke, der die Stunden für mich überschattet, seit wir von Fletchs Tod erfahren haben. Die Frage, ob mit ihm auch Depeche Mode gestorben ist! Wir haben gerne unsere Witzchen über den Mann gemacht, der da hinterm Keyboard mehr geklatscht als gespielt hat und wenn er spielte, dafür lediglich einen Finger benötigte.
Aber, und auch das könnt ihr seit gestern überall im Netz lesen, er ist nicht einfach nur der Kumpel, den man da jahrzehntelang mit durchgeschleift hat, ohne dass es wirklich eine Aufgabe für ihn gäbe. Er war der Kleber, der das Phänomen Depeche Mode die ganzen Jahre zusammengehalten hat. Manchmal wirkte es so, als sprächen Dave und Martin ganz unterschiedliche Sprachen und nur Fletch war dazu imstande, für die beiden zu übersetzen. In den ersten Jahren hieß es oft, dass er derjenige ist, der den Papierkram übernimmt. So war es wohl auch, als die Band ohne Manager auskam.
Aber Fletch war eben deutlich mehr. Es gibt in der Zeit einen tollen Nachruf auf ihn. Dort gibt es einen Vergleich mit dem Sechser im Fußball. Es ist eine wenig spektakuläre Position und steht wenig im Rampenlicht. Fällt die 6 aber verletzungsbedingt aus, bricht unter Umständen unmittelbar das Mannschaftsgefüge zusammen. Genau das ist Fletch bei Depeche Mode gewesen. Wenn sich Dave und Martin (zuvor auch noch Alan) wieder einmal schwer taten, ans Arbeiten zu kommen, oder gar den Kontakt zu den anderen mehr oder weniger haben einschlafen lassen, dann war Andy da und hat die Truppe wieder zusammengetrommelt.
Ihr könnt gerne jammern, dass die letzten Alben nicht mehr so schön waren wie in den Achtzigern und Neunzigern. Aber hätte es da niemanden wie Fletch gegeben, hätte es die letzten beiden Depeche-Jahrzehnte (vielleicht gar die letzten drei) mit all den Alben, Hits, Konzerten und unglaublichen Erlebnissen vielleicht nicht mehr gegeben.
Aber so oder so: Die Zeit ist jetzt vorbei, das Trio ist zum Duo zusammengeschrumpft. Geht es jetzt noch weiter? Können Mart und Dave zu zweit die riesige Live-Maschine Depeche Mode noch einmal anwerfen? Vielleicht – Nothing’s impossible! Oder scheitern sie vielleicht schon daran, jetzt überhaupt noch irgendeinen Song zusammen aufzunehmen? Ganz ehrlich: Der Zeitpunkt ist vermutlich der denkbar falscheste, um darüber zu spekulieren. Jetzt ist erst einmal Zeit, damit die beiden ihre Gedanken sortieren können – und ehrlich gesagt gilt das auch für uns Fans.
Zwei Dinge stehen dennoch jetzt schon fest, in Stein gemeißelt:
- Egal, ob sie noch auftreten oder nicht und ob sie noch Songs produzieren oder nicht: Depeche Mode wird ohne Fletch nie wieder dasselbe sein!
- Der Geist von Depeche Mode und die Musik werden ewig weiterleben!
Wir werden schließlich so oder so die Band weiter zelebrieren, uns zu den Songs verlieben, zur Musik feiern und tanzen. Unsterblich sind die Jungs für mich sowieso schon lange. Auch, wenn ich gestern eiskalt erwischt wurde mit der nicht neuen Erkenntnis, dass alles so schnell vorbei sein kann. Es fühlt sich unrichtig an, dass jemand wie Andy, der immer da war, plötzlich nicht mehr da sein soll. Deutlich zu früh aus unser aller Leben gerissen. Und ich halte es auch für absolut legitim, dass sich der Verlust für viele von uns Devotees so anfühlt, als wäre ein liebes Familienmitglied gegangen.
Es fühlt sich alles noch sehr unwirklich an, wenn ihr mich fragt. Ich denke an die DM-Party morgen, die nach dem Empathy-Test-Konzert stattfindet. Wieder komme ich mit lieben Menschen zusammen, um das Leben, die Musik und unsere Band zu zelebrieren. Aber es wird eine Party mit einer Stimmung sein, die anders ist als bei jeder anderen DM-Party zuvor.
Gerade habe ich den ganzen Text hier noch einmal gelesen. So, wie ich es immer mache, bevor ich etwas veröffentliche. Es ist kein „runder“ Artikel. Kein Konzept, keine Stoßrichtung, keine finale Erkenntnis und somit auch wohl überhaupt kein wirklicher Mehrwert für die, die ihn lesen. Es ist halt genau so unsortiert und unstrukturiert, wie es in meinem Kopf derzeit aussieht. Ich gehe mich jetzt noch ein wenig sortieren, werde versuchen, mich abzulenken. Wird schwer, weil gerade Fletch in vielen meiner Gedanken ist und weil ihr euch ja sicher vorstellen können, welche Musik hier den ganzen Tag ununterbrochen läuft.
Passt auf euch auf, lasst Fletch hochleben und trauert so, wie ihr es für angemessen haltet. Und wenn wir uns das nächste Mal sehen, wollen wir uns in den Arm nehmen, in Erinnerungen schwelgen und mit einer Träne im Auge tanzen. Und irgendwann, wenn es aufhört, so furchtbar wehzutun. Dann bleiben die Songs, unsere Erinnerungen und unsere wunderbaren Freundschaften übrig.
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