Musik

Musik-Rezension: Die Ärzte – „Hell“ oder: Wie Bela die Ärzte rettete

Die Einen finden’s scheiße, die Anderen finden’s stark
Genau wie jedes Jahr
Wir sind wieder da

Kommen euch diese Zeilen bekannt vor? Ja, dachte ich mir. Sie stammen aus „Super Drei“, jenem selbstreferenziellen Opener des 95er-Albums der Ärzte, „Planet Punk“. Ein Vierteljahrhundert später gibt es wieder ein neues Album der selbsternannten besten Band der Welt. Nur die Zeile „Genau wie jedes Jahr“ aus dem oben zitierten Song passt so gar nicht. Achteinhalb Jahre hat es dieses mal gedauert, bis sich die feinen Herren, die langsam aber sicher auch auf die 60 zurauschen, wieder mal die Ehre gegeben haben.

Fast wäre alles vorbei gewesen

Beinahe wäre es auch nach so langer Zeit gar nicht dazu gekommen, denn nach der letzten Tour hatte die Band echt den Bock auf die Band und auf die jeweils anderen Protagonisten verloren. Man hatte sich zum Schluss nicht mehr viel zu sagen und hat tatsächlich jahrelang nur sehr sporadisch mal Kontakt gehalten. Noch schlimmer: Farin Urlaub hatte zwischenzeitlich sogar seine Gitarre und sein Equipment verhökert, weil ihm einfach nicht mehr der Sinn nach Musik stand und er quasi ’nen Haken drangemacht hatte.

Es war Bela B., der das nicht so einfach hinnehmen wollte. Er schlug vor, dass man sich — ohne über Musik quatschen zu müssen — doch wenigstens mal zum Essen treffen könnte, so einmal im Jahr. Taten sie dann auch und seine Band-Mates Rodrigo González und Farin ließen sich sogar bequatschen, sich bei einem Solo-Gig von Bela blicken zu lassen. Das war 2016 beim kuscheligen Festival gegen Rechts in Jamel, wo die Menge mal so richtig ausrastete, als Kollege Felsenheimer überraschend Jan und Rod auf die Bühne zauberte.

Gerade Farin war so geflasht von den Reaktionen des Publikums, dass so langsam der Plan entstand, dass man doch wieder ein paar Konzerte geben müsste. Es war aber ein zartes Pflänzchen und die weitere Annäherung brauchte tatsächlich noch ein paar Jahre. 2018 schließlich kündigte man an, dass man im nächsten Jahr — also 2019 — ein paar Headliner-Gigs auf fetten Festivals in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu spielen.

Eigentlich hätte man auch direkt gerne Solo-Shows gespielt, aber vielleicht kennt ihr das ja aus dem Festival-Business: Gegen Kohle sichern sich die Veranstalter Exklusivität. Bedeutet: In diesen drei Ländern durften die Ärzte im letzten Jahr keine Gigs ansetzen. Was haben die Füchse stattdessen gemacht? Genau — sie organisierten die „Miles and More“-Tour und spielten kurzerhand einfach in ein paar Ländern, die um den verbotenen Bereich herum liegen. Ich selbst war in Amsterdam und London dabei und es war schon großartig, sie überhaupt wieder auf der Bühne sehen zu können. Dann auch noch in relativ kleinen Läden und wieder mit der alten Spielfreude, die ihnen auf der letzten Tour meiner Meinung nach ein bisschen abhanden gekommen war.

 

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Road to Hell

Was passierte musikalisch zwischen der Idee, wieder gemeinsam aufzutreten und dem ersten Song des neuen Albums? Das erzähle ich euch hier jetzt – also quasi die „Road to Hell“ (Hach, was liebe ich mein tolles Wortspiel).

Bevor sich die Ärzte nämlich überhaupt wieder auf eine Bühne stellten, stand für sie fest, dass sie keinen Bock darauf haben, nur ihren riesigen Katalog an alten Songs zu verwalten und bis ans Ende ihrer Tage Best-of-Sets zu spielen. Damit man also für die Mitte Mai in Warschau beginnende Club-Tour durch Europa und die anschließenden großen Festivals gerüstet war, klöppelte man bereits mal flott zwei Songs zusammen. Bei Veröffentlichung wussten wir Fans aber dennoch nicht, ob da noch ein Album folgen wird oder nicht.

Im Februar 2019, bevor man neues Material der Band geboten bekam, stellten uns die drei Jungs zunächst einmal eine Rätselaufgabe. Ein Wort sollte erraten werden, alle paar Tage gab es einen weiteren Buchstaben. Als wir bei „ABS“ angelangt war, war den meisten klar, dass hier vermutlich „Abschied“ das Lösungswort sein könnte.

Alarmglocken schrillten: Sollte das jetzt also die Ankündigung des endgültigen Endes der besten Band der Welt sein? Dazu passte der Schnipsel, den man auf der Ärzte-Seite vorab hören konnte. Darin singt die Band:

Manchmal ist es einfach Zeit, zu gehen doch wenn der Tag gekommen ist, sagt niemand dir bescheid ich weiß, es fällt dir schwer, das einzusehen und traurig fragst du mich: ist es denn wirklich schon so weit?

Ich sage dir: wir haben hell geleuchtet und vieles, was wir taten, hat Bestand man wird sich lange noch an uns erinnern, du musst jetzt stark sein, hier – nimm meine Hand:

Mehr als irgendeine Band, die ich kenne, sind die Ärzte immer wieder sehr selbstreferentiell und beziehen sich in ihren Songtexten auf sich selbst. Klar also, dass die Befürchtung da war, dass das auch dieses mal so sein würde. Als dann aber der Song veröffentlicht wurde, war die Erleichterung groß: Es geht nicht um das Ende der Ärzte, sondern nur ums Ende der Welt — Glück gehabt 😉

PS: Das Rätsel ergab dann übrigens nicht „Abschied“, sondern „Abstrakt“. Farin hat mittlerweile erklärt, dass die Lösung tatsächlich „Abschied“ lauten sollte, aber nachdem so viele Fans die Lösung bereits nach drei Buchstaben erraten hatten, hat sich die Band einfach spontan für ein komplett anderes Wort entschieden. Typisch Ärzte, oder? 😀 Hier ist jedenfalls der Song:

Sehr witzig übrigens, dass die Band gleich zwei Videos veröffentlichte — in einer vegetarischen und einer veganen Version. Auch das nächste Video, veröffentlicht Ende April, war wieder sehr originell und vermutlich ebenso günstig wie das vorherige. War nämlich bei „Abschied“ nichts zu sehen außer einer Bratpfanne, in der Essen brutzel, legte die Band für den Song „Rückkehr“ ein Sockenpuppen-Video nach – schaut’s euch an:

Auch hier könnte man auf Anhieb glauben, dass sich der Songtitel auf die Band selbst bezieht und ja, in diesem Fall ist es dann auch tatsächlich so. Im Text heißt es:

ja, ich weiß, ihr habt wieder einmal alle gedacht es wäre vorbei, dabei haben wir nur Pause gemacht jetzt geht es weiter, denn das wäre doch gelacht ich prophezeie an dieser Stelle, dass es ordentlich kracht denn Fakt ist: Es ist schon viel zu lange her es wird langsam Zeit für unsere Rückkehr kommt und seht es, bevor es zu spät ist da geht noch etwas mehr wir sind noch immer populär vielleicht sogar besser noch als vorher und ich erklär hier mal ganz autoritär: das wird spektakulär – es ist schon viel zu lange her.

Mit diesen beiden Songs ging es dann auf die Tour. Die Band mischte fröhlich jüngere und ältere Nummern, von einem neuen Album war jetzt aber immer noch nichts zu sehen weit und breit. Letzten November kündigte die Band dann ihre „In the Ä tonight“-Tour an, die logischerweise ruckzuck inklusive aller Zusatztermine ausverkauft war. Ab 2020 ging dann für uns alle der Pandemie-Spaß los. Unter der Pandemie litt und leidet die ganze Musikbranche, demzufolge auch die Ärzte.

Passend zum Zeitgeist im Frühjahr dieses Jahres, der von Livestreams und Hamsterkäufen geprägt war, veröffentlichten die Ärzte ihr „Lied für jetzt“, Corona-Regel-konform saßen die Jungs im Video dazu jeweils bei sich zuhause vor der Kamera:

Hell – Song für Song

Aber jetzt genug davon: Wir wollen schließlich übers neue Album sprechen und das ist, soviel schon mal vorweg, richtig klasse geworden. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ein neues Ärzte-Album so abgefeiert habe — vermutlich seit der „Planet Punk“ nicht mehr. Wie ihr ja wisst, befinden sich die Ärzte-Songs seit letztem Jahr endlich auch auf allen wichtigen Streaming-Plattformen, ein Schritt, den die Ärzte lange gescheut haben.

Dennoch wollte man den Fans, die die physischen Tonträger kaufen, einen Mehrwert bieten. Konkret bedeutet das, dass nur diejenigen, die die CD- oder Vinyl-Version erwerben (hier mein Amazon-Partner-Link), die Soundschnipsel zu hören bekommen, die sich zwischen den Songs befinden. Vinyl-Fans freuen sich darüber hinaus über ein wunderschönes Buch, welches die Anschaffung locker rechtfertig. Und noch eine Info: Ja, die Platte wiegt 181 Gramm — ein Gramm mehr als üblich 😀

Aber jetzt genug davon, lasst uns durch die 18 Songs ackern, die es auf den neuen Longplayer geschafft haben, dessen Name „Hell“ natürlich nicht zufällig ein ambivalenter, mehrdeutiger ist. Los geht’s:

 

1 – E.V.J.M.F.

Los geht es mit einem Track, der nicht nur sehr ungewöhnlich fürs Ärzte-verwöhnte Ohr klingt, sondern auch wieder mal einen Songtitel hat, von dem niemand außer der Band weiß, was er bedeutet.

Meinen ersten Lacher hatten sich die Ärzte bereits erkämpft, bevor der Gesang offiziell beginnt, dadurch, dass der legendäre Satz „Seltsam? Aber so steht es geschrieben“ zu hören ist — jener Satz, der am Ende jeder Story in den Gespenster-Geschichten zu finden ist. Generell können sich die Hörer auf ein Album freuen, welches gespickt ist mit musikalischen und popkulturellen Anspielungen und Referenzen, so viel kann ich jetzt schon verraten.

Der ungewöhnliche, sehr kurze Intro-Song entpuppt sich als eine lupenreine Trap-Nummer, in der Farins Stimme per Autotune verfremdet wird. Rod ist der Verantwortliche für die Musik und stellte Bela sein Werk vor mit den Worten: „Ich hasse Trap!“ — was Bela B. mit anerkennendem „Dafür kannst Du das aber richtig gut“ quittierte.

Die Band wollte ganz bewusst natürlich eine verstörende Nummer am Anfang — also verstörend im Sinne von denkbar Ärzte-untypisch. Das dürfte eindrucksvoll gelungen sein 😉

Und zum Text: Will man sich die Lyrics auf der Ärzte-Seite durchlesen, findet man dort anstelle des Textes folgende Info:

Hen­di­a­dy­oin, das
(Substantiv, Neutrum)
Trennung: Hen|dia|dy|oin
Ausdruckskraft stärkende Verbindung zweier synonymer Substantive oder Verben

Das bezieht sich natürlich auf das ebenfalls im Lied erwähnte Fremdwort, bei dem ich auch erst mal googeln musste tatsächlich, womit wir es hier zu tun haben. Wobei — Googeln ist schon der finale Schritt, denn erstmal musste man heraushören, was für ein gottverdammtes Wort das da überhaupt sein soll.

Obige Erklärung bringt jedenfalls Licht ins Dunkel. Es handelt sich um ein rhetorisches Stilmittel, bei dem zwei Worte im Grunde das Gleiche beschreiben, also synonym, bzw. verstärkend verwendet werden. Beispiele dafür sind „Haus und Hof“, „frank und frei“ oder auch „nie und nimmer“. Ihr merkt schon, oft handelt es sich dabei um Alliterationen, das muss aber nicht der Fall sein. Im Ärzte-Song lautet das Hendiadyoin “ Farin kennt das Wort durchaus schon was länger – dieser Clip belegt das sehr schön (die entsprechende Stelle beginnt etwa ab Minute 6:30):

2 – PLAN B

Mit „Plan B“ geht es dann im Grunde erst richtig los und hier geben die Ärzte nicht nur mächtig Gas, sondern liefern uns auch den Sound, den wir uns von den Berlinern erhoffen. Textlich bezieht sich Farin wieder selbst nach dem Motto: Die Jungs können einfach nichts anderes als Musik machen, es gibt keinen Plan B.

Musikalisch hab ich im Laufe des Albums viele Male anerkennend mit den Ohren geschlackert und das geht auch direkt bei dieser Nummer los. Fett, schnell und ordentlich nach vorn, also eine „hier sind wir wieder“-Geschichte im besten Sinne. Aufgefallen ist mir hier nicht nur die merkwürdige Aufzählung der Rock-Geheimzutaten (Bass, Schlagzeug, Hahn, Leute – mehr dazu findet ihr auch auf dem Textblatt ^^), sondern auch das knallige Gitarren-Riff, welches bei mir direkt eine „Dancing with myself“-Assoziation weckt. Laut Farin hat man sich auch tatsächlich hier beim guten Billy Idol bedient — die Melodie ist zwar eine andere, aber dennoch hat man sich seine Idee geborgt.

 

3 – ACHTUNG: BIELEFELD

Bei „Achtung Bielefeld“ geht es vordergründig um Langeweile bzw. auch darum, welchen Luxus sie darstellen kann. „Dank“ Smartphone langweilen wir uns ja irgendwie nie mehr, egal ob wir auf der Couch liegen, im Wartezimmer beim Arzt sitzen oder auf den Bus warten. Einfach mal Langeweile zulassen, findet Bela, weist im Lied aber auch darauf hin, wie froh beispielsweise eine Mutter in Aleppo wäre, wenn sie mal sowas wie Langeweile verspüren würde. Diese Stelle ist für meinen Geschmack ein bisschen zu platt oder plakativ, in der Sache stimmt es aber natürlich.

Der Songtitel ist auf der einen Seite ein Link zur Langeweile, weil Bielefeld gern mal als eher langweiliges Städtchen bezeichnet wird. Auf der anderen Seite ist der Titel „Achtung: Bielefeld“ aber auch ein Verweis auf „Soilent Grün“-Zeiten, jene Band, in der Farin und Bela vor ihrer Ärzte-Zeit aktiv waren.

Schon beim Cover der ersten „Hell“-Auskopplung „Morgens pauken“ konnte man sehen, dass die Jungs die Soilent-Grün-Zeit noch im Hinterkopf haben, wählten sie fürs Cover immerhin exakt das Motiv aus, welches das einstige Cover der „Fleisch“-EP von Soilent Grün im Jahr 1982 zierte. Damals gab es Proberaum-Nachbarn, ebenfalls eine Punk-Band, die einen Song probten, der sich für Jan und Bela nach „Achtung, Achtung Bielefeld“ anhörte. Es sollte sich später herausstellen, dass es ein Mauer-Song ist, in dem es „Achtung, Achtung Minenfeld“ heißt — die Phrase „Achtung Bielefeld“ blieb aber ewig in Belas Kopf und fand nun in diesem Stück Verwendung.

Was die Musik angeht, hat Bela B. von vornherein die Band „The Feelies“ im Kopf gehabt und auch Farin mit diesem Verweis auf den Sound dieses Songs eingeschworen. Vor allem das Debütalbum „Crazy Rhythms“ von 1980 hat es bei den beiden zu Kult-Status gebracht und so kann man diesen Song als eine Art Reminiszenz an die Indie-Rockband aus New Jersey verstehen, von der auch R.E.M. sagen, dass sie durch die Feelies beeinflusst wurden.

 

4 – WARUM SPRICHT NIEMAND ÜBER GITARRISTEN?

Der Songtitel verrät es bereits: Wieder einmal eine Farin-Nummer. Auffällig: Es geht im Titel um Gitarristen, im ganzen Track allerdings geht es um alles Mögliche, aber tatsächlich so gut wie gar nicht um Gitarristen. Über das Songwriting der Band muss man grundsätzlich wissen, dass sie gerne versuchen, die jeweils anderen Mitglieder mit dem noch behämmerteren Reim oder der noch schrägeren Idee zu überraschen. Oft ist es aber auch so, dass man lediglich einen Satz im Kopf hat und um diesen herum ein ganzes Lied ersponnen wird. Genau so war es in diesem Fall, als Farin nämlich bei einem Freund eine aufgeschlagene Ausgabe des Spiegel erblickte mit der Headline „Warum spricht niemand über Gitarristen“. Okay, er hat nicht auf Anhieb richtig hingeschaut, denn tatsächlich lautete die Überschrift: Warum spricht niemand über Gebärneid?  Aber sei es drum: Der Satz blieb Farin im Kopf und so kam es zu diesem Song.

Was die musikalische Seite angeht, so hat hier Farin wieder ein richtiges Brett abgeliefert, welches wieder einmal beweist, mit wie viel Akribie die Drei an diesen neuen Songs gearbeitet haben. Egal, ob es die Gitarren sind, die vor allem im Refrain schön ballern, die vielseitigen Chorgesänge oder auch die Vielzahl der unterschiedlichen Sounds, die benutzt wurden — es ist jenseits des Textes einfach ein richtig schönes Stück Musik. Was die Sounds betrifft, so kamen in diesem Stück besonders viele unterschiedliche Gitarren-Effekte und -Parts zum Einsatz. In der zweiten Strophe hört man sogar eine Shamisen (eine japanische Laute mit sehr perkussivem Klang), bevor es zum Ende Akustikgitarre und final dann einen eher Brian-May-mässigen Sound gibt.

 

5 – MORGENS PAUKEN

„Morgens pauken“ muss ich euch vermutlich nicht vorstellen, immerhin ist der Track ja die erste Vorabveröffentlichung aus dem Album gewesen und somit den meisten längst bekannt. Auch dieses Lied hatte die Band zunächst ein wenig anders eingeordnet und es war eine längere Entwicklung, bis die Entscheidung feststand, dass man genau diesen Track als erstes Lebenszeichen des neuen Die-Ärzte-Albums raushauen wollte.

Das klappt mit dem Song auch brillant, weil hier einfach alles zusammenpasst: Das Gitarrenriff, welches einem direkt schön in den Arsch tritt, das generell hohe Tempo der Nummer und der zeitgeistige Text, in dem man sich darüber auslässt, was heutzutage alles als „Punk“ durchgeht bzw. betitelt wird, Stichwort „Business Punk“.

Rod hat die Nummer geschrieben, gesanglich kommen hier aber tatsächlich alle drei Protagonisten zum Einsatz und zum Schluss wird sogar Didi Hallervorden zitiert, der seinerzeit seine „Santa Maria“-Persiflage „Punker Maria“ veröffentlichte. Ich kann mir gut vorstellen, wie Farin und Bela damals, Anfang der Achtziger, die Hände überm Kopf zusammengeschlagen haben, als sie sahen und hörten, wie sich ein Herr Hallervorden Punk vorstellt. Er sah aus wie ein 70er-Jahre-Rocker, hörte sich wie ein Homosexueller an, sang aber von seiner Angebeteten, die eben Punk ist. Schräge Nummer, hier könnt ihr sie euch reinziehen, wenn ihr tatsächlich das Bedürfnis verspürt.

 

6 – DAS LETZTE LIED DES SOMMERS

Das Lied, zumindest die Musik, hat Farin schon länger fertig – etwa aus der „Auch“-Zeit. Schon bei den ersten Tönen kam mir da in den Sinn, dass es so eine Art Westerland 2 sein könnte. Und ja, es entpuppt sich dann auch tatsächlich als ein typischer, eskapistischer Farin-Song, der sich wieder einmal des Surf-Sounds bedient.

Surf-Songs haben bei Herrn Urlaub ja Tradition. Was mit „Sommer, Palmen, Sonnenschein“ begann und sich über „Wegen Dir“ und eben „Westerland“ entwickelte, findet nun also mit „Das letzte Lied des Sommers“ seine Fortsetzung. Allein der erste Satz holt mich komplett ab und katapultiert mich in die Die-Ärzte-Zeit Mitte der Achtziger. Herrliche Nummer, in der sich Farin aus dem Berufsverkehr zum Strand wünscht.

 

7 – CLOWN AUS DEM HOSPIZ

„Clown aus dem Hospiz“ ist wieder ein Bela-Track und war auf Anhieb einer meiner Lieblinge auf dem Album. Es geht los mit einem krachenden Gitarrenriff und gemäßigtem Drum-Tempo, entwickelt sich dann aber sehr schnell zu einer flotten Uptempo-Nummer, die mit einem leichten Ska-Feeling daherkommt und einem Sound, bei dem ich nicht genau ausmachen kann, ob es ein Spielzeug-Keyboard, ein Glockenspiel oder ähnliches ist. Alles in allem jedenfalls baut sich hier ein Song sehr angenehm auf, noch bevor Bela überhaupt eine einzige Note gesungen hat. Später kommen auch noch Streicher zum Einsatz und bewirken auch hier wieder, dass man staunend seinen Hut vor dem Ideenreichtum und der Vielseitigkeit der Berliner ziehen muss.

Textlich geht es deutlich weniger fröhlich zu, denn Herr Felsenheimer befasst sich darin — durchaus selbstreferenziell — mit Künstlern, bei denen die größten Meisterwerke oft nur dann entstehen können, wenn es ihnen selbst dreckig geht. Man braucht vielleicht manchmal einfach die Krise, die schweren Gedanken und all diese dunklen Gefühle, um in der Kunst an seine Grenzen gehen zu können und all das meint „Clown aus dem Hospiz“, für meinen Geschmack ein Höhepunkt des ohnehin durchwegs starken Albums.

Übrigens fällt beim Hören auf, wie widersprüchlich die Charaktere Farin und Rod eben auch in ihren Songs sind: Der vorige Track war eine typische Eskapismus-Nummer Farins, der sich gerne mal weit weg wünscht, gefolgt von einer weiteren dieser typischen „Verlierer“-Stories (nenne ich sie mal vorsichtig), für die Bela bekannt ist. Ich könnte mir vorstellen, dass die Lieder nicht zufällig direkt nacheinander auf dem Album sind.

 

8 – ICH, AM STRAND

Und ja: Mit „Ich, am Strand“ kommt direkt der nächste Höhepunkt des Albums. Anfangs dachte ich erst, dass es ein biographischer Song von Farin sein könnte, der sich schon wieder an irgendeinen Strand wünscht. Tatsächlich geht es aber um einen fiktiven Menschen, der Erinnerung an Erinnerung reiht und bei dem wir zum Ende hin sein unerwartetes Schicksal erkennen, welches ihn ereilt hat.

Auffällig ist hier vor allem der Text, der so klingt, als hangle sich der Protagonist von Erinnerung zu Erinnerung, wobei es so wirkt, als schaue er einfach alte Fotos durch. Auf die Idee kam Farin, als er einfach mal bewusster auf Obdachlose in Berlin achtete und sich daher eine Biographie eines dieser Menschen zusammengereimt hat, so wie sie hätte sein können.

Auch musikalisch wieder eine wunderschöne Nummer, die sich zudem auch ein wenig vor Mark Hollis und seinem Über-Hit „Such a shame“ verneigt. Hollis ist bekanntlich das leider im letzten Jahr verstorbene Mastermind der großartigen Band Talk Talk.

 

9 – TRUE ROMANCE

Auch diesen Song kennen wir bereits als Vorabveröffentlichung. Der Titel lässt auf ’ne Liebes-Schnulze schließen, aber wer die Ärzte kennt, weiß natürlich, dass ein Song-Titel keinesfalls ein Indiz für das Lied ist. In der Tat geht es auch eigentlich nur darum, möglichst krude Reime auf „Alexa“ zu finden und darauf hinzuweisen, dass es schon ein bisschen weird ist, wie sehr Sprachassistenzsysteme wie Alexa und Siri Einzug in unser Leben gehalten haben.

Typisch Ärzte: Entweder findet man einen Reim — oder ein Reim passt nicht und es wird im Text dann aber auch explizit darauf hingewiesen. So geschehen beim Versuch, „Alexa“ auf „Drecksau“ zu reimen. Erinnert mich übrigens an „Jag Älskar Sverige“, wo man zum Beispiel auf „Déjà-vu“ tatsächlich „hör ich Dir nicht zü“ reimt, oder auch „In Schweden geh’n die Uhren an (Pause) …ders“ gefolgt von „… und ich glaub, das liegt daran (, dass …)“.

„True Romance“ ist jedenfalls die perfekte Radio-Single für das Pop-gewöhnte Ohr, welches sich laut Band dabei an Elementen des Kongo-Rumba bedient. Für mein Empfinden ist die Nummer ein bisschen zu gefällig, da gefallen mir die meisten anderen Songs auf „Hell“ doch besser. Dafür lassen es die Drei im Video (siehe oben) ordentlich krachen. Apropos Video: Sehr einfallsreich war auch dieser alternative Clip, der mit einem wirklich fetten Staraufgebot aufwartet:

Sehr netter Promo-Einfall der Band, denn all diese Künstler haben ihre jeweiligen Schnipsel in den sozialen Medien veröffentlicht und damit natürlich die Ärzte-Fans noch heißer auf den neuen Song gemacht.

Nette Anekdote am Rande: Die Querflöte in „True Romance“ wird wieder von Heinz Strunk gespielt. Damals holten sich die Ärzte den Mann schon für das Album „Planet Punk“ ins Studio, wo er Querflöte auf „Rod ♥ You“ und „Meine Ex(plodierte Freundin) spielte. Außerdem stammt im letztgenannten Song auch der Satz „… im Raum verteilt“ von Strunk. Über die Ärzte lernte Strunk dann Rocko Schamoni kennen, der Rest ist Geschichte.

 

10 – EINMAL EIN BIER

Als ich erstmals die ersten Töne von „Einmal ein Bier“ vernahm, musste ich direkt an Horror-Punk denken, weil die Gitarre so schön skurril klingt und ja, „skurril“ beschreibt das Lied auch tatsächlich perfekt, wenn wir auf den Text blicken. Im Song singt Bela nämlich davon, wie er mal für eine Nacht zum Bier geworden ist. Ich verneige mich ehrfürchtig vor dem Autor des Textes, denn „ein Bier wie mich muss man erst mal brau’n“ ist schon ganz großes Songwriting-Kino, wenn ihr mich fragt 😀

Musikalisch lag ich mit Horror-Punk aber eher daneben, vielmehr will sich die Band vor „Gang of Four“-Leadgitarrist Andy Gill verneigen, der Anfang dieses Jahres verstarb. Farin Urlaub hat also (erfolgreich) versucht, den ziemlich zackigen Stil des Andy Gill zu imitieren. Sowohl Bela als auch Farin sind riesige Fans der ersten Alben der Post-Punker und so war Farin auch sehr happy damit, eine Gitarre im Gill-Stil einspielen zu dürfen.

Der Text ist natürlich komplett absurd und wieder einmal ein Beleg dafür, dass die Jungs oft Songs nur schreiben, um die anderen zum Lachen zu bringen. „Einmal ein Bier“ ist der etwas andere Bier-Song und fügt diesem Gerstensaft-Verherrlichungs-Genre definitiv eine neue Facette hinzu 😉 Übrigens hat Bela sich vorgenommen, dass dieser Song unter zwei Minuten lang ist. Das klappte nur, weil man im Song irgendwo einen Takt rausnahm und das Tempo nachträglich unmerklich anhob.

 

11 – WER VERLIERT, HAT SCHON VERLOREN

„Es ist nicht lange her, dass wir dachten, wir hätten gewonnen“ — so geht der 11. Song los, der mich musikalisch sehr an die Ärzte aus der 1986er-Ära erinnert. Mehr als den Satz hatte Farin auch erst gar nicht im Kopf und er hat diese fiktive Geschichte komplett um diesen Satz ersponnen.

Ich hab für mich versucht zu ergründen, welche Geschichte bzw. wessen Geschichte dort wohl erzählt wird, bin da aber zu keinem Ergebnis gekommen. Ein völlig ohne Ironie auskommender Song, zu dem man sich vermutlich eine Million Szenarien ausdenken könnte, auf die die Worte passen. Auch hier gefällt mir die fette Gitarren-Wand wieder großartig und ich liebe das Gitarren-Solo.

Vermutlich einer der wenigen neuen Tracks, die ich mir bis jetzt live nicht so gut vorstellen kann, aber hier zuhause, oder wenn ich mit Kopfhörern durch die Straßen meiner Stadt marschiere, funktioniert „Wer verliert, der hat schon verloren“ absolut perfekt.

 

12 – POLYESTER

„Polyester“ stammt aus der Feder von Rod, klingt aber so, als hätte es Morrissey mit Britpop getrieben. Das meine ich im absolut positivsten Sinne, denn musikalisch ist dieses Lied für mich ein absolutes Highlight. Bela selbst spricht von einer „Wall of Sound“ und das beschreibt es wohl tatsächlich ganz gut.

Textlich sind wir hier wieder in der skurrilen Abteilung unterwegs: Ein Typ, der aus Kunststoff besteht? Ernsthaft? Aber wenn man den Jungs in den Interviews zuhört, bekommt die Idee ein wenig dechiffriert. In der Tat ist es eine Öko-Nummer, in der es um Mikroplastik geht und darum, was das mit uns Menschen anstellt im Laufe der Zeit.

Wir nehmen immer mehr Mikroplastik in uns auf und diesen Gedanken mixt Rod in seinem Text mit den Inhalten von Body-Horrorfilmen wie beispielsweise von Cronenberg (Die Fliege) oder auch Tsukamoto, der in seinem ziemlich schrägen Film „Tetsuo, The Iron Man“ Charaktere zeigt, die nach und nach zu Metall werden. Rod vermischt also den realen Horror — das Aufnehmen von Mikroplastik — mit diesem surrealen, dass wir zu Plastik-Wesen mutieren könnten. Wie gesagt: Absolut abgedreht, musikalisch echt ein Träumchen.

 

13 – FEXXO CIGOL

Es bleibt absurd, denn der Songtitel „Fexxo Cigol“ ist denkbar kryptisch. „Cigol“ ist rückwärts „Logic“, aber den Rest kann ich mir nicht zusammenreimen. Kann übrigens niemand, behaupten die Ärzte — selbst Rod bekommt von Bela und Farin nicht verraten, was es bedeuten soll 😉

Was den Titel angeht, könnte man jetzt also perfekt Verschwörungstheorien um die Bedeutung spinnen und das ist der hölzerne Versuch, auf den Text überzuleiten, in dem es tatsächlich um Verschwörungstheorien geht. Der Song ist tatsächlich schon früher entstanden bzw. angefangen worden, aber die Band war sich schnell klar, dass das Thema unbedingt aufs aktuelle Album sollte.

Zum Thema könnte ich jetzt — wieder einmal — ganze Romane schreiben, weil diese Verschwörungsideologen aktuell nicht nur übel nerven, sondern auch eine reale Gefahr darstellen. Genau darauf will man hinweisen und Bela verweist im Interview auch auf Gestalten, die sich da merkwürdigen Kram zusammenreimen und stets der Meinung sind, dass nur sie in der Lage sind, diese geheime Wahrheit als erste bemerkt zu haben.

Bela beobachtet das nicht nur mit Abscheu diesen Menschen gegenüber, sondern auch mit einer gewissen Wehmut, denn früher einmal war das Thema Verschwörungstheorien ja ein durchaus spannendes, wenn man zum Beispiel darüber sinniert hat, ob Menschen tatsächlich auf dem Mond waren, wer für die Kennedy-Ermordung verantwortlich ist usw.

Mir geht es da ganz ähnlich, weil mich diese Theorien auch immer fasziniert haben in ihrer Ganzheit. Heutzutage gibt es aber überhaupt keine Information mehr, die nicht irgendwo von irgendwem in eine Verschwörungstheorie umgemünzt wird. Das hat abstruseste Ausmaße angenommen und sich für so manchen sogar zu einem richtigen Geschäft entwickelt.

Der Fingerzeig im Song kommt zweifellos an, musikalisch wird es aber überraschend eingängig gelöst. Die Strophe mit dem typischen Bela-Gesang wirkt noch recht spröde, im harmonischen Refrain möchte man aber am liebsten mitschunkeln. Ach etwas, was ich bei den Ärzten mag, wie textliche Aussage und Musik in ihren Songs immer mal kollidieren.

14 – LIEBE GEGEN RECHTS

Dieser Widerspruch zwischen Songtitel/Thematik und Sound wird auch hier wieder sehr schön demonstriert. Der Name „Liebe gegen Rechts“ lässt musikalisch sowas wie „Schrei nach Liebe“ erahnen, stattdessen liefern die Ärzte aus Berlin hier aber eine blitzsaubere Country-Nummer mit fröhlicher Banjo-Gitarre ab.

Farin singt von einer Freundin, die zwischenzeitlich rechts war. In der zweiten Strophe klaut sie, in der dritten Folge erfahren wir, dass sie mal ein Mann war. Die Frage, die sich mir direkt stellte: Singt er hier von einer rechtsradikalen Transgender-Kleptomanin oder singt er einfach von drei verschiedenen Damen? Erfreulicherweise hat Farin im Interview verraten, dass er sich selbst da nicht ganz sicher ist.

Im Grunde ist der Text wieder mal ein ganz schlichtes Statement für Liebe, aber vor allem durch die Musik holt mich der Song komplett ab. Ich mag die Dynamik des Songs, der durch den forcierten Beat in der zweiten Strophe nochmal mehr Fahrt aufnimmt und auch dieser Bass-Chorgesang zwischendurch macht richtig gute Laune.

 

15 – ALLE AUF BRILLE

Haha, ich sehe nur den Songtitel und muss schon wieder laut loslachen 😀 Ich kann nur erahnen, wie es bei den Ärzten im Studio zugeht, möchte aber wetten, dass Rod und Farin lachend auf dem Boden gelegen hat, als Bela dieses Stück eingesungen hat. Und ja, falls ihr euch fragt: Diese Stimme, die ihr hört, gehört tatsächlich Bela, auch wenn es äußerst ungewöhnlich klingt.

Nach dem gesprochenen Intro (bei dem ich auch erst nicht glauben konnte, dass das Bela ist“, erklingt ein lautes „Oi“ und ich stellte mir direkt die Frage, ob darauf jetzt tatsächlich ein Oi-Punk-Song folgen wird. Sekunden später konnte ich mir diese Frage mit „Ja“ beantworten und in der Tat: Diese Männer, die stramm auf die 60 zumarschieren haben hier einen blitzsauberen Oi-Punk-Song abgeliefert. „Blitzsauber“ meint in diesem Zusammenhang, dass das Ding sowohl musikalisch als auch textlich absolut ins Genre passt und der Gesang in all seiner Grausamkeit auch herrlich authentisch wirkt.

Ich hab keinen Schimmer, wie man so falsch singen kann und die Ärzte sind sich auch sicher, dass in dem Song einige Töne zu hören sind, die es vorher überhaupt noch nicht gab 😀 Großartiger Track jedenfalls, bei dem ich tatsächlich jedes mal laut loslachen muss, wenn er erklingt, jüngst erst im Supermarkt passiert. ^^ Ich kann mich ehrlich gesagt nicht entscheiden, ob „Alles auf Brille“ nun eine sensationelle Hommage an Oi-Punk oder eine sensationelle Persiflage von Oi-Punk ist, ist aber auch eigentlich egal, oder?

Bekanntlich bin ich ja weder ein großer Schläger, noch jemand, der sich auf Leute stürzen würde, nur weil er Brillenträger ist. In diesem Fall kann ich aber nicht anders und gröhle aus voller Brust mit: WE HATE THOSE FOUR EYED CUNTS 😀

Fun Fact am Rande: „Alle auf Brille“ war seinerzeit auch ein möglicher Alternativ-Titel für die „Planet Punk“. Bela konnte sich von diesem Satz nie wirklich lösen und zum Glück hat er jetzt endlich seinen Weg auf ein Ärzte-Album gefunden. Ich kann es jetzt schon nicht mehr abwarten, diesen Song live zu hören!

 

16 – THOR

„Thor“ ist wieder ein klassischer „Die Ärzte“-Track, lustiger Punkrock, wie sie ihn seit Jahrzehnten perfekt bedienen. Mit dem Verweis auf den Marvelhelden zollt man wieder ein wenig der Popkultur Tribut, aber wenn Farin erklärt, dass ihm Chris Hemsworth den Körper geklaut hat, dann wird dem Hörer klar, dass es auch ums Altern geht.

Ja, Farin hat vielleicht nicht mehr das identische Sixpack wie vor 20 Jahren, dennoch ist der Song absolut augenzwinkernd gemeint und funktioniert auch als solcher. Musikalisch ist „Thor“ für mich nicht der Stärkste auf dem Album, die breite Gitarrenwand gefällt aber dennoch.

Auch hier noch ein klitzekleiner Hinweis: Im Text heißt es „Du Klappstuhl mach dich gerade“ und dieses „Mach dich gerade“ ist eine Referenz an den Film „Rocker“ von 1976. Ich staune immer wieder, mit welcher Musik, welchen Comics und Filmen die Ärzte sozialisiert wurden und bin sicher, dass es ein Heidenspaß gewesen sein muss, mit den jungen Ärzten in den frühen Achtzigern rumzuhängen.

 

17 – LEBEN VOR DEM TOD

Öfter mal was Neues: „Leben vor dem Tod“ ist ein zuckersüßes Liebeslied, in dem es keine Ironie gibt, keine Metaebene, keinen doppelten Boden. Farin erzählt hier auch nicht, wie sonst oft üblich, eine Geschichte, sondern lässt einfach mal seinen Gefühlen freien Lauf.

Das Lied hat mich direkt auf Anhieb begeistert mit seiner bewusst sparsamen Instrumentierung, zu der neben vielen Streichern auch Glockenspiel gehört. Von der Stimmung her erinnert es mich sehr an „Eleanor Rigby“ von den Beatles und auch an „Little 15“ von meinen Helden Depeche Mode. Wenn ich es mir recht überlege, erinnert der Song in Teilen auch ein klein wenig an „Weg nach unten“ von Knorkator.

Auch Rod hatte übrigens eine Depeche-Mode-Assoziation beim Hören der Demo, als er sich Gedanken dazu machte, wie man diesen Song instrumentieren wird. Übrigens waren sowohl Bela als auch Rod schon von der Demo recht begeistert, waren dann aber nahezu erschlagen davon, wie sich der finale Song im Mix dann entwickelt hat. Kann ich nachvollziehen, denn „Leben vor dem Tod“ ist für mich ein echtes Meisterwerk und ein wundervolles Liebeslied.

Nette Text-Idee, die wieder mal beweist, was für Wortakrobaten die Jungs sind: „wie sagte schon Lennon? Liebe ist alles, was du brauchst“ — hier dürfte es ganz sicher kein Zufall sein, dass sich „schon Lennon“ sehr nach „John Lennon“ anhört.

 

18 – WOODBURGER

Wenige Tausend Wörter später kommen wir auch schon beim letzten Song an. Der heißt „Woodburger“ und der Wortwitz erschließt sich wohl jedem hier und damit auch die Stoßrichtung des Lieds. Konkret geht es um die AfD und darum, wie man diese Rechtspopulisten unterwandern könnte. Den Rest erzähle ich euch, nachdem ihr euch diesen Track angehört habt.

Achtung, Spoiler!

Ja, tatsächlich eine Spoilerwarnung innerhalb einer Alben-Rezension 😀 Ist in diesem Fall angemessen, weil der Song auch von seiner Pointe lebt und die möchte ich euch nicht kaputtmachen. Stellt also sicher, dass ihr hier jetzt erst weiterlest, nachdem ihr das Lied gehört habt!

Habt ihr? Gut, dann weiter im Text. Farin war tatsächlich sehr wütend beim Schreiben dieses Songs und ja, die Wut auf Rechtspopulisten und diejenigen, die denen hinterherrennen kann ich bestens nachvollziehen. Ganz viel Liebe an dieser Stelle für die Textzeilen:

was haben Boko Haram gemein
mit rechtspopulistischen Volksparteien?
Ohne Angst und Hass können sie nicht überleben

Ihm war aber nicht danach, einen zweiten Teil von „Schrei nach Liebe“ zu verfassen oder einen völlig ironiefreien Text über die AfD zu singen, deswegen wusste er, dass er im Refrain irgendwas benötigt, was überraschend kommt und die ganze Thematik entwaffnend lustig auf den Kopf stellt.

Nach seiner Vorstellung konnte er das am besten erreichen, indem er davon singt, wie er der AfD beitritt und dann schwul wird. Diesen Bruch hören wir natürlich auch in der Musik, wenn nämlich aus einem Punkrock-Song plötzlich eine funkige Nummer wird, die mehr an Jazzkantine als an die Ärzte erinnert.

Textlich ist es natürlich provokant, seine homo-erotischen Gedanken dann in der Folge ziemlich deutlich zu benennen, aber für mein Empfinden ist es dann eben auch nur konsequent und somit auch der perfekte Knaller zum Ende eines Albums. Witzig finde ich im Text übrigens die Stelle:

Dieses faltige Fleisch, diese hängende Pelle
– mein Kollege sang darüber mal an anderer Stelle –
ich krieg schon Herpes, wenn ich nur daran denke

Ich mag halt diese Anspielungen und Referenzen und diese zielt natürlich auf Bela B. und seinen Song „Omaboy“ ab vom 93er Album „Die Bestie in Menschengestalt“. Apropos Referenz: Auch eine Orgel-Anspielung an die Doors findet ihr im Track. Musikalisch bringt mich diese Nummer ebenso zum Lachen wie textlich, vor allem, weil es nach dem eigentlichen Song noch einmal einen Bruch gibt. Zum Ende hin kommt nämlich wieder eine funkige Passage, die die Band als „Sexy Soul“ bezeichnet und in der u.a. auch Bläser zum Einsatz kommen. Damit schaffen es die Ärzte, dass das Album ähnlich absurd endet, wie es begonnen hat. Zwischen Trap und Sexy Soul gibt es dafür dann zum Glück eine Stunde „Die Ärzte“ in absoluter Bestverfassung.

Abschließend nochmal kurz zum „Woodburger“-Text. Ich habe bei meiner Recherche zu diesem Text viele Rezensionen und Interviews gelesen, u.a. den Beitrag in der Zeit, wo es heißt:

Das Konzept ist weder so clever noch so provokant, wie es sich selbst findet, und die anklingende Idee, dass Menschen schwul „werden“ oder einander schwul „machen“ könnten, bleibt auch dann homophob, wenn man sie auf Nazis anwendet. Woodburger unterläuft keine Klischees, es reproduziert sie.

Ich befürchte, dass der Autor da einfach eine Metaebene übersehen hat, weil es für mein Empfinden nicht darum geht, dass Farin denkt, jemand könnte einfach beschließen, schwul zu werden. Stattdessen wird ganz bewusst mit dem kruden Weltbild vieler Rechtspopulisten gespielt, in deren Welt das durchaus vorstellbar ist, dass man über seine Sexualität entscheiden kann.

Letzter Satz noch zu „Woodburger“: Auch hier lohnt sich wieder der Blick auf die aufgeschriebenen Lyrics und einen Check der Unterschiede zwischen dem Textblatt und dem, was tatsächlich zu hören ist.

Mein Fazit:

Meine Fresse, wieso ist diese Rezension eigentlich so lang? Okay, im Grunde sind die Ärzte selbst schuld. Immerhin sind es satte 18 Stücke, es gab eine ewig lange Pause, die es hier im Text auch aufzuarbeiten galt und schlussendlich sind die Ärzte eine meiner wenigen Herz-Bands neben Depeche Mode und verdienen es, dass ich mich ausführlich damit auseinandersetze (In diesem Zusammenhang könnt ihr euch dann schon mal freuen auf eine Rezension einer kommenden Depeche Mode-Platte. Für die Rezi könnt ihr dann schon mal zwei Tage Urlaub nehmen ^^).

Ich muss zugeben, dass ich mich nach „Geräusch“ von 2003 nur noch wenig mit den Ärzten befasst habe bzw. mit den neuen Sachen. Auf „Jazz ist anders“ von 2007 gab es noch eine Menge nette Sachen, mit „auch“ von 2012 bin ich irgendwie nie so richtig warm geworden. Allerdings muss ich gestehen, dass ich dem Album auch nicht wirklich viele Chancen gegeben habe und erst im Vorfeld der Miles and More-Tour habe ich mich wieder mehr damit beschäftigt.

Wenn dann — 17 Jahre nach „Geräusch“ — wieder ein neues Album ansteht, ist man erst mal skeptisch. Liefern die alten Herrschaften nochmal ab? Oder wird es ein Album wie „auch“, zu dem ich nicht wirklich einen Zugang finde? Irgendwie ist mein Ärzte-Fieber längst schon wieder entfacht und ja, tatsächlich hat das Streaming, mit dem die Band bekanntlich ja ziemlich hadert, dazu beigetragen. Seit ich die Werke der Jungs auf Spotify genießen kann, sind „Debil“, „Im Schatten der Ärzte“ und viele Alben mehr regelmäßige Begleiter und so war es auch klar, dass wir sowohl die Miles and More-Tour mitnehmen wollen als auch „In the Ä tonight“.

Die Tickets haben wir also bestellt, ohne eine Idee, wie die neuen Songs klingen könnten. Jetzt ist „Hell“ seit gut einer Woche im Handel und ich muss sagen, dass ich schon ewig nicht mehr ein frisch erschienenes Album so oft gehört habe wie dieses. Okay, das letzte war dann wohl „Spirit“ von Depeche Mode.

Ich war vom ersten Ton an super happy mit dem Album und es fällt mir tatsächlich schwer, einen oder zwei Lieblinge hervorzuheben, weil es einfach so viele bärenstarke Tracks gibt. Besonders berührt haben mich aber „Clown aus dem Hospiz“, „Ich, am Strand“ und „Leben vor dem Tod“, am lautesten gelacht habe ich bei „Alle auf Brille“ und „Woodburger“, glaube ich.

Die Ärzte schaffen für meinen Geschmack mit „Hell“ den perfekten Spagat zwischen „aus einem Guss“ und vielseitig. Immer wieder staune ich, wie viele Spielarten jeglicher Musik die Jungs beherrschen und auch auf diesem Album hagelt es wieder massig musikalische Referenzen, Sounds und Stile.

Textlich ist man auch wieder auf allerhöchstem Niveau unterwegs, es wechseln sich starke Statements ab mit grotesken Reimen und irren Gags. Die Stunde Spielzeit vergeht im Flug, die Songs sind abwechslungsreich, musikalisch zum Teil tatsächlich herausragend und alles in allem habe ich jetzt unendlich Bock, viele der Stücke auch live zu hören. Die Tour ist leider noch mehr als ein Jahr weg (mindestens), aber damit müssen wir leider ja alle klarkommen, dass uns die Pandemie Striche durch alle denkbaren Rechnungen macht.

Ich habe keinen Bock, hier auf dem Blog Sterne oder sowas zu vergeben für Alben. Würde ich es tun, wären es bei „Hell“ sicher fünf von fünf. Andere Rezensionen, die ich gelesen habe, kommen zum Teil zu ähnlich begeisterten Resultaten, andere wiederum zeigen sich eher enttäuscht. Bei den kritischeren Rezis schwingt dann immer sowas mit wie: „Ehrlich? Müssen die in diesem Alter immer noch diese platten Witze machen?“

Aber ganz ehrlich: Ich habe so einen Heidenrespekt davor, dass die Band sich das jetzt über fast vier Jahrzehnte bewahrt hat und es ist für meinen Geschmack eine absolute Qualität, da all die Jahre nicht nachzugeben und immer wieder genau das zu sagen und zu machen, auf was sie Bock haben.

Immer noch machen die Jungs irre schrägen Reime nicht in erster Linie, um einem Publikum zu gefallen, sondern um die jeweils anderen Protagonisten der Band zu unterhalten, sie mit dem witzigeren Reim oder der noch abstruseren Idee zu übertrumpfen. Wie keine zweite Band beherrschen die Ärzte dieses hin und her springen zwischen Musikstilen, zwischen ernstem Statement und flachem Gag, zwischen Ironie, Selbstironie und Ironiefreiheit.

Gerade diese Selbstironie ist meiner Meinung nach das perfekte Gegenargument gegen all diejenigen, die der Band vorwerfen, dass sie irgendwann doch mal zu alt für das sein müssen, was sie da tun. Seit sie junge Männer sind, haben sie nicht nur immer den Rest der Welt, sondern auch sich selbst auf die Schippe genommen und auf dieser Ebene kann man eben auch als Musiker, der auf die 60 zugeht, noch genau diese Musik machen und dabei dennoch völlig authentisch sein.

Wenn sie Anfang der Achtziger mit „Kopfhaut“ Country gemacht haben oder Surf-Punk mit „Sommer, Palmen, Sonnenschein“, dann war das schon augenzwinkernd nach dem Motto: Wir hoffen, ihr könnt erraten, welcher Musikstil das sein soll. Mittlerweile sind die Ärzte längst eine Band, die ihre Instrumente ausgezeichnet beherrscht und die mit Leichtigkeit zwischen den Stilen hin und her springen kann, ohne dass es sich zwischendurch auch nur eine Sekunde lang nicht nach Ärzten anhört.

„Hell“ beweist das eindrucksvoll: Wenn man Country oder Surf-Punk machen möchte, dann klingt das ebenso konsequent und richtig, als wenn man breite Gitarrenwände und den gewohnten Ärzte-Punkrock anbietet. Selbst Trap und funkige Soul-Einlagen bekommen die drei Jungs so gut hin, dass man es ihnen einfach abkauft.

Darüber hinaus muss man feststellen, dass den Dreien die Corona-Zeit augenscheinlich gut getan hat bzw. dem Album. Da man nicht viel tun konnte, als tatsächlich am Album zu werkeln, verbrachte man fast zwangsläufig viel mehr Zeit mit den jeweiligen Songs. Es gibt so viel zu entdecken, so viele verschiedene Instrumente, die zum Einsatz kamen. So viele unterschiedliche Chorgesänge, popkulturelle Referenzen und Anspielungen. Insider, die in Teilen selbst Mitglieder der Band in ihren Details nicht völlig durchdringen.

Wer hätte gedacht, dass die Jungs nochmal so ein Album in sich haben? Die ersten drei Alben sind für mich so ein Zyklus für sich, der über allem anderen schwebt, selbst wenn danach natürlich noch weitere bärenstarke Alben veröffentlicht wurden. Wie gesagt habe ich jetzt erst eine Woche mit „Hell“ verbracht und Eindrücke verändern sich ja oft mit der Zeit. Aber stand jetzt würde ich „Hell“ zusammen mit den ersten drei Alben und „Planet Punk“ zu meinen Top Fünf der Band zählen.

Mein „Die Ärzte“-Herz ist jedenfalls wieder voll entflammt und so freut es mich natürlich, dass Farin bereits jetzt explizit nicht ausschließen wollte, dass „Hell“ ihr letztes Album war. Bereits jetzt hatte man deutlich mehr als die 18 Songs am Start, Material gibt es also so oder so noch. Aber wer sich diese Songs aus dem Ärmel schütteln kann, der kann meinetwegen in ein, zwei Jahren gerne nochmal ein komplett neues Album vorlegen.

Die Ärzte – Hell – CD-Ausgabe

Wenn ihr übrigens überlegt, euch das Album zuzulegen (Partner-Link), dann lohnt sich das übrigens durchaus, nicht nur mit der Streaming-Version vorliebzunehmen. Zum einen sind da die Interludes zwischen den Songs, die ihr auf Spotify und Co nicht bekommt, außerdem präsentieren sich sowohl CD als auch Vinyl als sehr schönes Buch.

Danke jedenfalls abschließend an Bela B., der mit seiner Beharrlichkeit dafür sorgte, dass es „Die Ärzte“ überhaupt noch gibt und danke auch an Farin und Rod, dass sie sich drauf eingelassen haben und unter Beweis stellen konnten, was sie zusammen heute noch auf dem Kasten haben. Und ja: Auch an jeden ein fettes Dankeschön, der das hier alles bis zum Ende gelesen hat — weiß auch nicht, wieso das so eskaliert ist. ^^

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